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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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mein Gesicht, als wollt er’s zeichnen.«
    Walter lächelte. »Wir sind nicht Hamlet und Ophelia. Geh also bitte nicht ins Kloster.«
    »Gott, was habe ich dich vermisst.«
    »Und ich dich. Ich habe auf einen Brief gehofft, aber das … Wie hast du das geschafft?«
    »Ich habe im Passamt angegeben, einen skandinavischen Politiker treffen zu wollen, um mich mit ihm über das Frauenwahlrecht zu unterhalten. Dann habe ich mich auf einer Party mit dem Innenminister unterhalten und ihm was ins Ohr geflüstert.«
    »Wie bist du hierhergekommen?«
    »Es fahren noch Passagierschiffe.«
    »Aber das ist zu gefährlich. Unsere U -Boote versenken alles, was schwimmt.«
    »Ich weiß, aber das Risiko war es mir wert. Ich war verzweifelt.« Sie brach in Tränen aus.
    »Komm, setz dich.« Den Arm noch immer um Mauds Hüfte gelegt, führte Walter sie durch das Zimmer zur Couch.
    »Nein«, sagte Maud, bevor sie sich setzen konnten. »Vor dem Krieg haben wir schon zu lange gewartet.« Sie nahm Walters Hand und führte ihn ins Schlafzimmer. Ein Feuer prasselte im Kamin. »Lass uns keine Zeit verschwenden. Komm ins Bett.«

    Grigori und Konstantin gehörten zur Abordnung des Petrograder Sowjets, die am Abend des 16. April zum Finnischen Bahnhof ging, um Lenin in der Heimat willkommen zu heißen.
    Die meisten Leute hatten Lenin noch nie gesehen. Den größten Teil der letzten siebzehn Jahre hatte er entweder in Verbannung oder im Exil verbracht. Grigori war elf Jahre alt gewesen, als Lenin das Land verlassen hatte. Aber er kannte seinen Ruf – wie offensichtlich auch Tausende andere, die sich am Bahnhof versammelt hatten, um ihn zu begrüßen. Warum so viele, fragte sich Grigori. Vielleicht waren sie mit der Provisorischen Regierung unzufrieden, genau wie er, misstrauten den bürgerlichen Ministern und waren wütend, weil der Krieg noch nicht zu Ende war.
    Der Finnische Bahnhof befand sich auf der Wyborger Seite in der Nähe der Textilfabriken und der Kaserne des 1. Maschinengewehrregiments. Auf dem Platz hatte sich eine gewaltige Menschenmenge versammelt. Grigori rechnete nicht mit Verrat; dennoch hatte er Isaak befohlen, ein paar Mann sowie Panzerwagen zur Sicherung mitzubringen. Auf dem Bahnhofsdach war ein Suchscheinwerfer angebracht, dessen Lichtkegel im Dunkeln über die Menge huschte.
    Im Bahnhofsgebäude wimmelte es von Arbeitern und Soldaten, die rote Fahnen und Banner schwenkten. Eine Militärkapelle spielte. Zwanzig Minuten vor Mitternacht stellten sich zwei Marineeinheiten zur Ehrenformation am Bahnsteig auf. Die Delegation des Sowjets wartete in dem großen, prächtigen Wartesaal, der einst für den Zaren und die kaiserliche Familie reserviert gewesen war, doch Grigori ging zu der Menge auf den Bahnsteig hinaus.
    Es ging auf Mitternacht zu, als Konstantin mit ausgestrecktem Arm den Bahnsteig hinunterzeigte. Grigori entdeckte die fernen Scheinwerfer eines Zuges. Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Menge der Wartenden. Dann dampfte der Zug in den Bahnhof und kam zischend zum Stehen. Er trug die Nummer 293.
    Nach einer Pause stieg ein kleiner, stämmiger Mann aus einem der Waggons. Er trug einen zweireihigen Wollmantel und einen Homburger. Das kann unmöglich Lenin sein, dachte Grigori. Der würde bestimmt nicht die Kleidung der Oberschicht tragen … oder doch? Eine junge Frau trat vor und reichte dem Mann einen Blumenstrauß. Er nahm ihn mit einem unfreundlichen Stirnrunzeln entgegen.
    Das war Lenin.
    Hinter ihm erschien Lew Kamenew, den das Zentralkomitee der Bolschewiken an die Grenze geschickt hatte, um sich dort mit Lenin zu treffen, falls es Probleme geben sollte. Aber man hatte Lenin ohne Schwierigkeiten einreisen lassen. Nun bedeutete ihm Kamenew, dass sie in den kaiserlichen Wartesaal gehen sollten.
    Doch anstatt Kamenew zu folgen, kehrte Lenin ihm rüde den Rücken zu und wandte sich an die Menge. »Genossen!«, rief er. »Man hat euch getäuscht! Ihr habt die Revolution gemacht, aber die Verräter in der Provisorischen Regierung haben euch um deren Früchte betrogen!«
    Kamenew wurde kreidebleich. Fast jeder Politiker der Linken unterstützte die Provisorische Regierung, anstatt sie anzugreifen – zumindest vorläufig.
    Grigori aber freute sich. Er glaubte nicht an die Demokratie der Bourgeoisie. Das Parlament, dessen Gründung der Zar 1905 zugelassen hatte, war bloß Blendwerk gewesen. Kaum waren die Unruhen vorüber und alle gingen wieder zur Arbeit, hatte die Duma ihre Macht verloren. Genauso wurde die

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