Sturz der Titanen
Provisorische Regierung geführt. Und endlich hatte jemand den Mut, es auszusprechen.
Grigori und Konstantin folgten Lenin und Kamenew in den Wartesaal. Die Menge drängte sich hinter ihnen durch den Eingang, bis der Raum zum Bersten gefüllt war. Der Vorsitzende des Petrograder Sowjets, der fast kahle, rattengesichtige Nikolos Tscheidse, trat vor. Er schüttelte Lenin die Hand. »Im Namen des Petrograder Sowjets und der Revolution heißen wir Sie in Russland willkommen«, sagte er. »Aber …«
Grigori hob die Brauen und schaute zu Konstantin hinüber. Dieses »Aber« kam unangemessen früh in der Willkommensrede. Konstantin zuckte mit den knochigen Schultern.
»Aber wir glauben, dass die Hauptaufgabe der revolutionären Demokratie im Augenblick darin besteht, die Revolution gegen alle Angriffe zu verteidigen.« Tscheidse legte eine kurze Pause ein und betonte dann: »Ob von außen oder von innen.«
Konstantin murmelte: »Das ist keine Begrüßung, das ist eine Warnung.«
»Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es der Einigkeit aller Revolutionäre. Wir hoffen, dass Sie diese Ziele in Übereinstimmung mit uns ebenfalls verfolgen werden.«
Einige Mitglieder der Delegation applaudierten höflich.
Lenin wartete kurz, ehe er antwortete. Er blickte in die Gesichter um ihn her, ehe er hinauf zur prunkvoll verzierten Decke schaute. Dann kehrte er Tscheidse den Rücken zu – eine absichtliche Beleidigung – und wandte sich an die Menge.
»Genossen, Soldaten, Matrosen, Arbeiter!«, rief er und schloss bewusst die bürgerlichen Parlamentarier aus. »Ich grüße euch als Vorhut der Armee aller Proletarier weltweit. Heute – oder vielleicht morgen – wird der europäische Imperialismus zusammenbrechen. Eure Revolution hat eine neue Ära eingeläutet. Es lebe die Weltrevolution!«
Die Leute jubelten. Grigori war verwirrt. Sie hatten gerade erst eine Revolution in Petrograd gemacht, und deren Ausgang stand noch infrage. Wie konnte da jemand von Welt revolution reden? Doch die Idee gefiel ihm; sie gefiel ihm sogar sehr. Lenin hatte recht: Alle Völker sollten sich gegen die Herrschenden erheben, die so viele Menschen in einem sinnlosen Krieg in den Tod geschickt hatten.
Lenin ließ die Abordnung stehen und marschierte auf den Platz hinaus. Lauter Jubel brandete auf. Isaaks Soldaten hoben Lenin auf das Dach eines Panzerwagens. Der Suchscheinwerfer wurde auf ihn gerichtet. Er nahm den Hut ab.
Seine Stimme war ein monotones Bellen, doch seine Worte waren elektrisierend. »Die Provisorische Regierung hat die Revolution verraten!«, rief er.
Erneuter Jubel. Grigori war erstaunt. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie viele Menschen genauso dachten wie er.
»Dieser Krieg ist ein imperialistischer Krieg. Wir wollen nichts mit diesem schändlichen Abschlachten zu tun haben. Durch den Sturz des Kapitals können wir einen demokratischen Frieden erreichen!«
Der Jubel wurde noch lauter, tosender.
»Wir wollen nicht die Lügen und Falschheiten eines bourgeoisen Parlaments! Die einzig mögliche Regierungsform ist ein Sowjet der Arbeiterdeputierten. Sämtliche Banken müssen verstaatlicht und der Kontrolle der Sowjets unterstellt werden. Aller private Grund und Boden muss konfisziert werden. Und sämtliche Offiziere in der Armee müssen gewählt werden!«
Genau dieser Meinung war auch Grigori. Er fiel in den Jubel ein.
»Es lebe die Revolution!«
Die Menge geriet außer Rand und Band.
Lenin kletterte vom Dach herunter und stieg in den Panzerwagen, der im Schritttempo losfuhr. Die Menge folgte ihm und schwenkte rote Fahnen. Die Militärkapelle schloss sich dem Zug an und spielte einen Marsch.
Grigori sagte: »Das ist mein Mann!«
»Meiner auch«, erklärte Konstantin.
Sie folgten der Prozession.
Kapitel 25
Mai und Juni 1917
Der Nachtclub Monte Carlo in Buffalo sah bei Tageslicht wie eine Bruchbude aus, doch Lew Peschkow liebte ihn. Das Holz war zerkratzt; die Farbe bröckelte ab; die Polster waren fleckig, und der Teppich war voller Brandlöcher. Aber für Lew war der Club das Paradies. Als er hereinkam, küsste er das Garderobenmädchen, gab dem Türsteher eine Zigarre und sagte dem Barmann, der sich gerade mit einer Kiste abschleppte: »Lass sie ja nicht fallen!«
Der Job eines Nachtclubmanagers war wie geschaffen für Lew. Seine Hauptaufgabe war, dafür zu sorgen, dass niemand etwas mitgehen ließ. Weil er selbst Dieb war, wusste er genau, wie man so etwas anstellte. Ansonsten musste er nur dafür sorgen, dass die
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