Sturz der Titanen
Überzeugungen kann kein Zweifel bestehen«, berichtete er seinem Vater beim Kaffee. »Er sagt, sie hätten zwar das Symbol der Unterdrückung beseitigt, den Zaren, nicht aber die russische Gesellschaft verändert. Es ist den Arbeitern nicht gelungen, die Macht an sich zu reißen; der wahre Herrscher ist immer noch das Bürgertum. Außerdem hasst Lenin Kerenski auch aus persönlichen Gründen – warum genau, weiß ich nicht.«
»Aber kann er die Provisorische Regierung stürzen?«
Walter breitete hilflos die Arme aus. »Er ist hochintelligent, entschlossen und der geborene politische Führer, und er hat nie etwas anderes getan, als zu arbeiten. Aber die Bolschewiken sind nur eine kleine Partei unter mindestens einem Dutzend anderer, die sich um die Macht streiten. Da ist es unmöglich zu sagen, wer schlussendlich die Oberhand behalten wird.«
»Dann war alle Mühe also umsonst.«
»Es sei denn, wir helfen den Bolschewiken in den Sattel.«
»Und wie?«
Walter atmete tief durch. »Wir müssen ihnen Geld geben.«
»Was?« Otto war außer sich. »Die deutsche Regierung soll sozialistische Revolutionäre finanzieren?«
»Für den Anfang schlage ich hunderttausend Rubel vor«, fuhr Walter sachlich fort. »Vorzugsweise in Zehn-Rubel-Goldmünzen, wenn du die bekommen kannst.«
»Dem würde der Kaiser niemals zustimmen.«
»Muss man es ihm denn sagen? Zimmermann könnte das doch auch genehmigen.«
»Das würde er nie tun.«
»Bist du sicher?«
Otto von Ulrich schaute seinen Sohn schweigend an und dachte nach.
Dann sagte er: »Ich werde ihn fragen.«
Nach drei Tagen im Zug verließen die Russen Deutschland. In Sassnitz kauften sie sich Fahrscheine für die Überfahrt über die Ostsee nach Südschweden. Walter begleitete sie weiterhin. Die Schiffsreise war rau, und alle waren seekrank mit Ausnahme von Lenin und Sinowjew, die auf Deck einen wütenden politischen Streit ausfochten und den schweren Seegang überhaupt nicht zu bemerken schienen.
Sie nahmen den Nachtzug nach Stockholm, wo der sozialistische Bürgermeister ihnen ein Willkommensfrühstück servierte. Walter quartierte sich im Grand Hotel ein. Er hoffte, dort einen Brief von Maud vorzufinden, jedoch vergeblich.
Walter war so enttäuscht, dass er sich am liebsten ins kalte Wasser der Bucht gestürzt hätte. Das war die einzige Gelegenheit in fast drei Jahren gewesen, mit seiner Frau zu kommunizieren, und irgendetwas war schiefgegangen. Hatte sie seinen Brief überhaupt bekommen?
Leidvolle Gedanken quälten ihn. Liebte sie ihn noch? Hatte sie ihn vergessen? Gab es vielleicht einen neuen Mann in ihrem Leben? Walter tappte völlig im Dunkeln.
Radek und der gut gekleidete schwedische Sozialist schleppten den widerwilligen Lenin in die Abteilung für Herrenbekleidung des örtlichen Kaufhauses. Die genagelten Bergstiefel, die der Russe bis jetzt getragen hatte, verschwanden. Lenin bekam einen Mantel mit Samtkragen und einen neuen Hut. Jetzt, erklärte Radek, sehe er endlich auch wie jemand aus, der sein Volk führen könne.
Als an diesem Abend die Dunkelheit hereinbrach, gingen die Russen zum Bahnhof und stiegen in einen Zug nach Finnland. Walter würde die Gruppe hier verlassen, doch er begleitete sie noch auf den Bahnsteig. Bevor der Zug abfuhr, traf er sich noch einmal allein mit Lenin.
Sie saßen in einem Abteil, dessen schwache Beleuchtung Lenins Glatze glänzen ließ. Walter war angespannt. Er durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Es wäre sinnlos, Lenin anzuflehen oder zu beknien, da war er sicher. Auch einschüchtern konnte man den Mann nicht. Nur kalte Logik konnte ihn überzeugen.
Walter hatte eine Rede vorbereitet. »Die deutsche Regierung hilft Ihnen, nach Hause zurückzukehren«, sagte er. »Sie wissen natürlich, dass wir das nicht aus Menschenfreundlichkeit tun, aber …«
Lenin unterbrach ihn in fließendem Deutsch. »Sie glauben, das sei zum Schaden Russlands!«, fuhr er ihn an.
Walter widersprach ihm nicht. »Und doch haben Sie unsere Hilfe akzeptiert.«
»Für den Erfolg der Revolution! Das ist das einzige Maß für richtig oder falsch.«
»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das sagen.« Walter hatte einen schweren Koffer dabei, den er nun abstellte. »Im falschen Boden dieses Koffers finden Sie hunderttausend Rubel in Scheinen und Münzen.«
»Was?« Normalerweise war Lenin nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, doch diesmal war er überrascht. »Wofür?«
»Für Sie.«
Lenin schaute beleidigt drein. »Wollen Sie
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