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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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konnte nichts tun. Eine Zeitung zu lesen hätte ihn auf der Stelle verraten. Er musste sogar darauf achten, nicht auf Fahrpläne zu schauen oder mehr als nur einen Blick auf Plakate zu werfen, denn die meisten russischen Bauern waren Analphabeten.
    Während Walter in einem halben Dutzend Zügen durch die schier endlosen russischen Weiten fuhr, erging er sich in Tagträumereien von der modernen Villa, in der er und Maud nach dem Krieg leben würden.
    Walters Reise endete in Petrograd.
    In Berlin hatte ein schwedischer Sozialist arrangiert, dass ein Kontaktmann der Bolschewiken jeden Tag zwischen achtzehn und neunzehn Uhr am Warschauer Bahnhof in Petrograd auf Walter warten sollte. Walter traf bereits am Mittag ein und nutzte die Gelegenheit, sich in der Stadt umzuschauen.
    Was er sah, schockierte ihn.
    Kaum hatte er den Bahnhof verlassen, wurde er von Prostituierten bestürmt, die sich ihm anboten: Frauen und Männer, Erwachsene und Kinder. Walter floh über eine Kanalbrücke in Richtung Norden zum Stadtzentrum. Die meisten Läden waren geschlossen, viele aufgegeben. Schaufenster waren eingeschlagen und geplündert; Glassplitter funkelten auf den Bürgersteigen. Walter sah Scharen von Betrunkenen und wurde Zeuge mehrerer brutaler Schlägereien. Hin und wieder sah er ein Automobil oder eine Pferdekutsche, wobei die Fahrgäste sich hinter Vorhängen verbargen. Die meisten Einwohner waren ausgemergelt, zerlumpt und gingen barfuß. Hier war es noch viel schlimmer als in Berlin.
    Walter sah Soldaten, einzeln oder in Gruppen, die keinerlei Disziplin mehr zu haben schienen: Sie zogen lärmend durch die Straßen, lungerten mit offenen Uniformen auf ihren Posten herum und unterhielten sich rauchend und trinkend mit Zivilisten. Offensichtlich konnten die Männer tun und lassen, was sie wollten. Walter fühlte sich in dem Eindruck bestätigt, den er bei seinem gefährlichen Besuch im russischen Schützengraben gewonnen hatte: Diese Männer wollten nicht mehr kämpfen.
    Niemand sprach ihn an, und die wenigen Polizisten schenkten ihm kaum Beachtung. Er war nur eine von unzähligen heruntergekommenen Gestalten, die durch eine verfallende Stadt streiften, in der es kaum noch Ordnung gab.
    Gegen achtzehn Uhr kam Walter zum Bahnhof zurück. Kurz darauf entdeckte er seinen Kontaktmann, einen Sergeanten, der ein rotes Band um sein Gewehr gebunden hatte. Bevor Walter sich ihm zu erkennen gab, betrachtete er den Mann. Er war eine beeindruckende Gestalt, nicht groß, aber mit breiten Schultern und kräftig. Ihm fehlten das halbe rechte Ohr, ein Schneidezahn und der Ringfinger der linken Hand.
    Der Russe wartete mit der Geduld eines Veteranen, doch sein Blick war scharf, und seinen blauen Augen schien nichts zu entgehen. Als hätte er Walters Blicke gespürt, wandte der Russe sich ihm unvermittelt zu, schaute ihn an und nickte ihm zu. Dann drehte er sich um und ging davon. Walter folgte ihm in einen großen Raum voller Tische und Stühle. Beide Männer setzten sich.
    »Sergeant Grigori Peschkow?«, fragte Walter.
    Grigori nickte. »Wer Sie sind, weiß ich.«
    Walter schaute sich in dem Raum um. In einer Ecke zischte ein Samowar, und eine alte Frau mit Kopftuch verkaufte Räucherfisch. Ungefähr zwanzig Leute saßen an den Tischen. Niemand verschwendete auch nur einen Blick auf den Soldaten und den zerlumpten Bauern, der offensichtlich darauf hoffte, einen Sack Zwiebeln verkaufen zu können. Ein junger Mann in blauem Arbeiterhemd kam in den Raum, setzte sich an einen Tisch, zündete sich eine Zigarette an und schlug die Prawda auf. Irgendwie machte der Mann einen verdächtigen Eindruck auf Walter.
    Er blickte Grigori an. »Könnte ich etwas zu essen bekommen?«, fragte er. »Ich stehe kurz vor dem Verhungern, aber ein Bauer kann sich die Preise hier wahrscheinlich nicht leisten.«
    Grigori nickte und holte einen Teller Schwarzbrot, Heringe und zwei Gläser gezuckerten Tee. Walter machte sich hungrig darüber her. Grigori beobachtete ihn einige Zeit; dann sagte er: »Kaum zu glauben, dass man Sie für einen Bauern gehalten hat. Ich sehe Ihnen den Großbürger auf hundert Schritt Entfernung an.«
    »Woran?«
    »Allein schon daran, wie Sie essen und sich den Mund abtupfen, auch wenn Sie es mit einem Lumpen statt mit einer Leinenserviette tun. Ein richtiger Bauer schaufelt das Essen in sich hinein und schlürft den Tee.«
    Immerhin habe ich drei Tage in euren verdammten Zügen überlebt, dachte Walter. Ich würde gern mal sehen, ob du das in

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