Sturz der Titanen
ungeöffnete Flasche an. »Trinken Sie einen Schluck, Herr Major.«
Der Offizier ignorierte ihn und drehte sich zu Sergeant Iwanow um. »Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun?«
Iwanow ließ sich nicht einschüchtern. »Die Männer hatten heute kein Mittagessen, Euer Gnaden. Da konnte ich ihnen wohl kaum ’nen Schluck verweigern.«
»Sie hätten den Mann gefangen nehmen müssen!«
Fjodor sagte: »Wir können ihn nicht gefangen nehmen … jetzt nicht mehr, nachdem wir seinen Schnaps getrunken haben.« Er lallte bereits. »Das wäre nicht gerecht.«
Der Major starrte Walter an. »Du bist ein Spion! Ich sollte dir deinen verdammten Schädel wegpusten.« Er legte die Hand auf die Pistole an seinem Gürtel.
Die Soldaten brüllten protestierend. Der Major schaute weiterhin wütend drein, nahm aber die Hand von der Waffe. Offenbar wollte er keinen Streit mit seinen Männern riskieren.
Walter versuchte, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. »Ich sollte jetzt lieber gehen. Euer Major hat schlechte Laune. Denkt daran: Wenn ihr nicht kämpft, kämpfen wir auch nicht.«
Nun kam der Augenblick der größten Gefahr. Walter kletterte aus dem Graben, ging ein paar Schritte, drehte sich noch einmal um, winkte und ging weiter. Dabei kam er sich vor, als hätte ihm jemand eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt. In der hereinbrechenden Dunkelheit würde es nicht lange dauern, bis er außer Sicht war. Nur noch wenige Meter, und er hätte es geschafft. Es kostete ihn alle Willenskraft, nicht loszurennen; dadurch würde er wahrscheinlich einen Schuss provozieren. Er biss die Zähne zusammen und ging mit gleichmäßigen Schritten zwischen Blindgängern hindurch.
Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Walter einen Blick zurück wagte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen: Er konnte den russischen Graben nicht mehr sehen. Das bedeutete, dass die Russen ihn nicht mehr sehen konnten. Er war in Sicherheit.
Es war ein Risiko gewesen, aber es hatte sich gelohnt: Die Informationen, die er mitbrachte, waren wertvoll. Obwohl an diesem Frontabschnitt keine weißen Fahnen wehten, waren die Russen nicht in der Verfassung, eine Schlacht zu schlagen. Die Männer waren unzufrieden und rebellisch, sodass die Offiziere Mühe hatten, die Disziplin aufrechtzuerhalten. Der Sergeant war darauf bedacht gewesen, die Soldaten nicht zu verärgern, und der Major hatte es nicht einmal gewagt, Walter gefangen zu nehmen. Die Moral der russischen Truppen schien am Boden zu sein.
Walter gelangte in Sichtweite der deutschen Linien. Er rief seinen Namen und eine vereinbarte Parole; dann sprang er in den Graben. Ein Leutnant salutierte vor ihm. »War Herr Major erfolgreich?«
»Ja«, antwortete Walter. »Sehr sogar.«
Katherina war im sechsten Monat schwanger. Träge lag sie auf dem Bett in Grigoris altem Zimmer. Sie trug nur ein dünnes Hemd. Das Fenster stand offen und ließ die warme Juliluft und den Lärm der Züge ins Zimmer, die nur einen Steinwurf weit am Haus vorbeidonnerten.
Grigori zeichnete mit dem Finger die Umrisse von Katherinas Körper nach: von der Schulter über eine Brust und zu den Rippen; von dort zu ihrem sanft gewölbten Bauch und ihren Schenkeln hinunter. Früher waren seine Beziehungen zu Frauen immer nur von kurzer Dauer gewesen. Für ihn war es eine neue, erregende Erfahrung, nach dem Sex neben einer Frau zu liegen und ihren Körper zu berühren, nachdem die Begierde gestillt war. »Die Schwangerschaft macht dich noch schöner«, sagte er leise, um Wladimir nicht zu wecken.
Seit zweieinhalb Jahren hatte Grigori für das Kind seines Bruders die Vaterrolle übernommen. Nun würde er ein eigenes Kind bekommen. Grigori musste an das Land denken, in dem das Kind aufwachsen würde, und an die bewegten letzten Wochen und Monate. Das Allerwichtigste für ihn war, dass sein Sohn in Freiheit aufwuchs. Aus irgendeinem Grund war Grigori überzeugt, dass es ein Junge wurde. Russland musste vom Volk regiert werden, nicht von einem bürgerlichen Parlament oder einer Koalition aus Geschäftsleuten und Generälen, die die alten Zeiten wieder aufleben lassen wollten, wenn auch in neuem Gewand.
Ob Lenin das Land in die Zukunft führen konnte? Grigori mochte den Mann nicht besonders. Lenin war ein Hitzkopf. Aber er arbeitete härter als irgendjemand sonst; er dachte sorgfältig über alles nach, und seine Entscheidungen waren bisher jedes Mal richtig gewesen. Niemand legte so viel unerschütterliche Entschlossenheit an den Tag. Lenin war ein
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