Sturz der Titanen
nur die Sprösslinge der wohlhabenden Mittelschicht unterrichtet; Judenkindern sei der Schulbesuch auch dann verboten gewesen, wenn ihre Eltern das Schulgeld hätten bezahlen können. Heute sei auf Anordnung der Bolschewiken die Bildung für alle kostenlos. Die Auswirkungen waren offensichtlich: Die Klassenzimmer waren bis zum Bersten mit Kindern in Lumpen gefüllt, die Lesen und Schreiben und Zählen lernten, sogar Naturkunde und Kunst. Was immer Lenin verbrochen haben mochte – und es war schwierig, die Wahrheit von konservativer Propaganda zu trennen –, zumindest schien es ihm ernst zu sein, was er über die Schulausbildung der russischen Kinder gesagt hatte.
Mit Billy im Zug fuhr Lew Peschkow. Er hatte Billy freundlich begrüßt und keine Spur von Scham gezeigt, als hätte er vergessen, dass er als Betrüger aus Aberowen verjagt worden war. Lew war nach Amerika gegangen und hatte ein reiches Mädchen geheiratet; jetzt war er Lieutenant und den Pals als Dolmetscher zugeteilt.
Die Omsker Bevölkerung begrüßte das Bataillon mit Jubel, als es vom Bahnhof zu seinem Quartier marschierte. Auf der Straße sah Billy zahlreiche russische Offiziere, die prunkvolle altmodische Uniformen trugen, aber anscheinend keine militärischen Aufgaben verrichteten. Außerdem entdeckte er viele kanadische Soldaten.
Als das Bataillon abtreten durfte, machten Billy und Tommy einen Bummel durch die Stadt. Viel gab es nicht zu sehen: eine Kathedrale, eine Moschee, eine Backsteinfestung und einen Fluss, auf dem reger Fracht- und Passagierverkehr herrschte. Sie waren erstaunt, wie viele Einheimische Uniformteile der British Army trugen. Eine Frau mit einem Bratfischstand trug eine Uniformjacke aus Khaki; ein Lieferant mit Handkarren war in einer dicken Sergehose unterwegs, wie auch Billy und Tommy sie trugen, und ein groß gewachsener Schuljunge mit einem Bücherriemen ging in glänzenden neuen britischen Armeeschuhen die Straße entlang.
»Wo haben die das Zeug her?«, fragte Billy.
»Wir versorgen die russische Armee hier mit Uniformen, aber Peschkow sagt, die Offiziere verkaufen alles auf dem Schwarzmarkt«, antwortete Tommy.
»Geschieht uns recht«, sagte Billy. »Schließlich helfen wir der falschen Seite.«
Beim kanadischen CVJM gab es eine Kantine; mehrere Pals waren bereits dort. Woandershin schien man nicht gehen zu können. Billy und Tommy besorgten sich Tee und Apfeltorte. »Diese Stadt ist das Hauptquartier der antibolschewistischen reaktionären Regierung«, sagte Billy. »Ich hab’s in der New York Times gelesen.« Die amerikanischen Zeitungen, die man in Wladiwostok bekommen konnte, waren ehrlicher als die britischen Blätter.
Lew Peschkow kam herein. Er wurde von einer bildhübschen jungen Russin in einem billigen Mantel begleitet. Alle starrten ihn an. Wie schaffte der Kerl das nur so schnell?
Lew sah aufgeregt aus. »He, Jungs, habt ihr schon das Gerücht gehört?«
Lew hört wahrscheinlich jedes Gerücht als Erster, dachte Billy.
Tommy erwiderte: »Ja, wir wissen schon, dass du ’n Homo bist.«
Wieherndes Gelächter.
»Was für ein Gerücht?«, fragte Billy.
»Es wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet.« Lew schwieg. »Kapiert ihr nicht? Der Krieg ist zu Ende!«
»Nicht für uns«, entgegnete Billy.
Captain Gus Dewar hatte Befehl, mit seiner Kompanie ein kleines Dorf namens Aux-Deux-Églises am Ostufer der Maas einzunehmen. Gus war das Gerücht zu Ohren gekommen, um elf Uhr vormittags sei mit einem Waffenstillstand zu rechnen, aber der Bataillonschef hatte den Angriff befohlen, und so führte Gus ihn aus. Er hatte seine schweren Maschinengewehre an den Rand eines Gehölzes nach vorn gestellt; nun feuerten sie über eine Wiese hinweg auf die Gebäude am Dorfrand, sodass der Feind genügend Zeit erhielt, sich zurückzuziehen.
Leider nutzten die Deutschen die Gelegenheit nicht. Sie hatten Minenwerfer und leichte Maschinengewehre in den Höfen und Obstgärten und erwiderten heftig den Beschuss. Ein MG , das aus dem Dachfenster einer Scheune feuerte, zwang die halbe Kompanie in Deckung. Immer wieder hörte Gus, wie einer seiner Männer aufschrie, wenn er von einer deutschen Kugel getroffen wurde, und jedes Mal fragte er sich, ob der Soldat jetzt, vielleicht wenige Minuten vor Kriegsende, noch getötet oder »nur« verwundet worden war.
Gus sprach Corporal Kerry an, den besten Schützen der Einheit. »Könnten Sie eine Gewehrgranate in den Heuboden schießen?«
Kerry, ein sommersprossiger
Weitere Kostenlose Bücher