Sturz der Titanen
nur schemenhaft sichtbar, wie Raubtiere in der Nacht, und in den letzten Tagen hatte sie kaum ein Auge zugetan. Die abergläubische Vorahnung ließ sie nicht los, dass Walter getötet würde, ehe der Krieg zu Ende ging.
Sie saß allein da, eine Tasse mit kaltem Tee in den Händen, starrte ins Kohlenfeuer und fragte sich, wo Walter war und was er machte. Schlief er irgendwo in einem feuchten Schützengraben, oder bereitete er sich auf den Kampf am kommenden Tag vor? Oder war er schon tot? Vielleicht war sie schon Witwe – eine Witwe, die in mehr als vier Jahren Ehe nur zwei Nächte mit ihrem Mann verbracht hatte. Alles war so ungewiss! Fest stand nur, dass Walter kein Kriegsgefangener war, denn Johnny Remarc überprüfte jede Liste gefangener Offiziere für sie. In ihr Geheimnis war Johnny allerdings nicht eingeweiht: Er glaubte, sie sorge sich nur um Walter, weil er vor dem Krieg ein guter Freund von Fitz gewesen war.
Beim Klingeln der Telefonglocke fuhr sie zusammen. Zuerst dachte sie, es könnte bei dem Anruf um Walter gehen, im nächsten Moment aber wurde ihr klar, dass das unmöglich war. Die Neuigkeit, dass ein Freund der Familie gefangen genommen worden sei, konnte bis zum Morgen warten. Es musste Fitz sein. War er in Sibirien verwundet worden?
Maud eilte in die Halle, doch Grout kam ihr zuvor. Schuldbewusst erkannte sie, dass sie versäumt hatte, dem Personal die Erlaubnis zum Zubettgehen zu erteilen.
»Ich werde mich erkundigen, ob Lady Maud zu Hause ist, Mylord«, sagte Grout in den Apparat, bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und sagte zu Maud: »Lord Remarc im Kriegsministerium, Mylady.«
Sie ließ sich von Grout den Hörer geben und fragte: »Geht es um Fitz? Ist er verletzt?«
»Nein, nein«, sagte Johnny. »Beruhige dich. Ich habe gute Nachrichten. Die Deutschen haben die Bedingungen des Waffenstillstands angenommen.«
»Oh, Johnny! Gott sei Dank!«
»Sie sind jetzt alle nördlich von Paris im Wald von Compiègne, in zwei Zügen auf einem Nebengleis. Die Deutschen sind gerade in den Speisewagen des französischen Zuges gekommen. Sie sind bereit zu unterzeichnen.«
»Aber noch haben sie es nicht getan?«
»Nein, noch nicht. Sie haben etwas an der Formulierung zu bemängeln.«
»Johnny, rufst du mich wieder an, wenn sie unterzeichnet haben? Ich gehe heute Nacht nicht mehr schlafen.«
»Wird gemacht. Auf Wiederhören.«
Maud gab dem Butler den Hörer zurück. »Der Krieg könnte heute Nacht zu Ende gehen, Grout.«
»Ich bin sehr froh, das zu hören, Mylady.«
»Aber Sie sollten jetzt zu Bett gehen.«
»Mit Ihrer Erlaubnis, Mylady, würde ich aufbleiben, bis Lord Remarc wieder anruft.«
»Ganz wie Sie wollen.«
»Wünschen Mylady noch Tee?«
Am frühen Morgen trafen die Aberowen Pals in Omsk ein.
Billy würde sich für den Rest seines Leben an jede Einzelheit der Viertausendmeilenreise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Wladiwostok aus erinnern. Die Fahrt hatte dreiundzwanzig Tage gedauert; in der Lokomotive sorgte ein bewaffneter Sergeant dafür, dass Lokführer und Heizer mit Höchstgeschwindigkeit fuhren. Billy hatte den ganzen Weg gefroren: Der Ofen, der in der Mitte des Waggons stand, konnte die Kälte des sibirischen Morgens nie vertreiben. Sie lebten von Schwarzbrot und Corned Beef. Doch jeden Tag hatte Billy eine Offenbarung gefunden.
Er hatte nicht gewusst, dass es auf der Welt so schön sein konnte wie am Baikalsee. Dieser See, erklärte Captain Evans, sei vom einen Ende zum anderen länger als Wales. Aus dem dahinrasenden Zug beobachteten sie, wie die Sonne über dem ruhigen blauen Wasser aufging, wie sie die Gipfel der hohen Berge am anderen Ufer erstrahlen ließ und deren Schneekappen in Gold verwandelte.
Genauso würde Billy sein Leben lang die Erinnerung an eine schier endlose Kamelkarawane bewahren, die an der Bahntrasse entlangzog. Geduldig stapften die schwer beladenen Tiere durch den Schnee, ohne auf das 20. Jahrhundert zu achten, das in Gestalt von klirrendem Stahl und zischendem Dampf an ihnen vorbeidonnerte. Ich bin ganz schön weit weg von Aberowen, dachte Billy in diesem Moment.
Doch der denkwürdigste Vorfall war sein Besuch in einer Schule in Tschita gewesen. Der Zug hielt dort zwei Tage, in denen Colonel Fitzherbert mit dem dortigen Anführer verhandelte, einem Kosakenhäuptling namens Semjonow. Billy schloss sich einer Gruppe amerikanischer Besucher zu einer Führung an. Der Schuldirektor, der Englisch sprach, erklärte, er habe bis vor einem Jahr
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