Sturz der Titanen
dürften sich Frauen wählen lassen. Ich schlage Ethel Williams als unsere Kandidatin vor.«
Einen Augenblick herrschte gebanntes Schweigen; dann redeten alle wild durcheinander.
Ethel war sprachlos. An so etwas hätte sie nie gedacht. Seit sie Bernie kannte, hatte er Abgeordneter für Aldgate werden wollen, und sie hatte es akzeptiert. Außerdem war es einer Frau bisher nie möglich gewesen, sich zur Wahl zu stellen. Ethel war sich nicht einmal sicher, ob es jetzt schon ging. Im ersten Augenblick wollte sie den Vorschlag rundheraus zurückweisen.
Doch Jayne war noch nicht fertig. Sie war eine hübsche junge Frau, doch ihre Erscheinung führte in die Irre; sie konnte sehr hartnäckig sein. »Ich schätze Bernie sehr, aber er ist ein Organisator, ein Mann für Parteiversammlungen«, sagte sie. »Aldgate hat einen liberalen Abgeordneten, der sehr beliebt ist und den man vielleicht nur schwer besiegen kann. Wir brauchen als Kandidaten jemanden, der diesen Sitz für die Labour-Partei gewinnen kann, jemanden, der zu den Menschen im Eastend sagen kann: ›Folgt mir zum Sieg!‹, und dem sie dann auch wirklich folgen. Wir brauchen Ethel.«
Sämtliche Frauen jubelten. Auch ein paar Männer, allerdings murrten andere düster vor sich hin. Ethel begriff, dass sie große Unterstützung finden würde, wenn sie sich als Kandidatin aufstellen ließ.
Und Jayne hatte recht: Bernie war vermutlich der intelligenteste Mann im Saal, aber mitreißend war er nicht. Er konnte erklären, wie es zu Revolutionen kam und wieso Firmen Pleite machten, aber Ethel konnte Menschen aufrütteln und zu einem Kreuzzug bewegen.
Jock Reid erhob sich. »Genosse Vorsitzender, ich glaube nicht, dass das Gesetz Frauen eine Kandidatur erlaubt.«
Dr. Greenward erwiderte: »Ich kann diese Frage beantworten. Das Gesetz, das dieses Jahr verabschiedet wurde und das Frauen über dreißig unter bestimmten Voraussetzungen das aktive Stimmrecht gibt, hat kein passives Wahlrecht vorgesehen. Die Regierung hat allerdings zugegeben, dass es sich dabei um eine Anomalie handelt; deshalb wurde ein weiterer Gesetzentwurf vorbereitet.«
So leicht ließ sich Jock nicht beirren. »Aber das Gesetz, wie es jetzt besteht, verbietet die Wahl von Frauen, also können wir auch keine nominieren.« Ethel lächelte schief: Es war schon eigenartig, wie Männer, die nach der Weltrevolution riefen, sich an die Buchstaben eines – obendrein diskriminierenden – Gesetzes klammern konnten.
Dr. Greenward erwiderte: »Das Gesetz soll vor der nächsten Parlamentswahl verabschiedet werden. Daher erscheint es für diese Ortsgruppe durchaus statthaft, eine Frau zu nominieren.«
»Aber Ethel ist keine dreißig.«
»Offenbar bezieht sich das neue Gesetz auf Frauen über einundzwanzig.«
»Offenbar?«, fragte Jock. »Wie sollen wir einen Kandidaten nominieren, wenn wir die gesetzlichen Bestimmungen nicht kennen?«
»Vielleicht sollten wir die Nominierung verschieben, bis das neue Gesetz verabschiedet ist.«
Bernie flüsterte Jock etwas ins Ohr, und Jock sagte: »Fragen wir Ethel, ob sie überhaupt kandidieren möchte. Wenn nicht, brauchen wir die Nominierung gar nicht erst zu verschieben.«
Bernie wandte sich mit einem zuversichtlichen Lächeln Ethel zu.
»Also gut«, sagte Dr. Greenward. »Ethel, wenn du nominiert würdest, würdest du annehmen?«
Alle schauten sie an.
Ethel zögerte.
Abgeordneter zu werden war Bernies Traum, und Bernie war ihr Mann. Aber wer von ihnen wäre für die Partei die bessere Wahl?
Als die Sekunden verstrichen, trat ein ungläubiger Ausdruck auf Bernies Gesicht. Er hatte von Ethel erwartet, dass sie die Nominierung auf der Stelle ablehnte.
Damit stärkte er ihre Entschlossenheit.
»Ich … ich habe es mir nie überlegt«, sagte sie. »Und … äh, wie der Vorsitzende sagte, im Moment ist es rechtlich noch gar nicht möglich. Also ist die Frage nicht leicht zu beantworten. Ich glaube, Bernie wäre ein guter Kandidat. Trotzdem brauche ich Zeit, darüber nachzudenken. Vielleicht sollten wir den Vorschlag des Vorsitzenden annehmen und die Nominierung verschieben.«
Sie wandte sich Bernie zu.
Er starrte sie an, als wollte er sie erwürgen.
Kapitel 33
11. November 1918
Um zwei Uhr morgens klingelte in Fitz’ Stadthaus in Mayfair das Telefon.
Maud war noch auf. Sie saß mit einer Kerze im Wohnzimmer, wo die Porträts toter Ahnen auf sie hinunterblickten. Die geschlossenen Vorhänge hingen schlaff wie Leichentücher herab, die Möbel um sie her waren
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