Sturz der Titanen
vorrangig.«
Das kam gar nicht gut an. Hier und da war sogar Buhen zu vernehmen.
Bernie fuhr fort: »Um nun wieder auf die wichtigeren Fragen zu sprechen zu kommen …«
Am anderen Ende des Saales rief jemand: »Was ist mit dem Kaiser?«
Bernie beging den Fehler, den Zwischenruf mit einer Frage zu beantworten. »Was soll mit dem Kaiser sein? Er hat abgedankt.«
»Sollte er vor Gericht gestellt werden?«
Verstimmt erwiderte Bernie: »Begreift ihr denn nicht, dass er bei einem Prozess das Recht hätte, sich zu verteidigen? Wollt ihr dem deutschen Kaiser eine Bühne bieten, auf der er vor aller Welt seine Unschuld darlegen kann?«
Ein bestechendes Argument, dachte Maud, nur war es nicht das, was das Publikum hören wollte. Das Buhen wurde lauter, und mehrere Zuhörer brüllten: »Hängt den Kaiser!«
Maud schüttelte den Kopf. Britische Wähler konnten widerlich sein, wenn sie aufgebracht waren, zumindest die Männer. An einer solchen Versammlung würden nur wenige Frauen teilnehmen wollen.
»Würden wir unsere besiegten Feinde hängen«, sagte Bernie, »wären wir Barbaren.«
Der Mann neben Maud brüllte wieder: »Die Hunnen sollen büßen!«
Das rief die bisher stärkste Reaktion hervor. Mehrere Zuhörer brüllten: »Ja, die Hunnen sollen büßen!«
»Wir dürfen uns nicht …«, begann Bernie, aber weiter kam er nicht.
»Die Hunnen sollen büßen!« Der Ruf wurde von immer mehr Zuhörern aufgenommen, und bald skandierten sie: »Die Hunnen sollen büßen! Die Hunnen sollen büßen!«
Maud erhob sich und ging.
Woodrow Wilson war der erste amerikanische Staatschef, der während seiner Amtszeit das Land verließ.
Am 4. Dezember fuhr er von New York aus mit dem Schiff in Richtung Europa. Neun Tage später erwartete Gus ihn am Hafen von Brest, an der westlichen Spitze des »Pfannenstiels« der Bretagne. Gegen Mittag lichtete sich der Nebel, und zum ersten Mal seit Tagen kam die Sonne durch. In der Bucht bildeten französische, britische und amerikanische Linienschiffe ein Ehrenspalier, durch das der Präsident an Bord eines amerikanischen Transportschiffes einfuhr, der George Washington . Geschütze feuerten Salut, und eine Kapelle spielte die amerikanische Nationalhymne.
Für Gus war es ein feierlicher Augenblick. Wilson kam, um dafür zu sorgen, dass es nie wieder einen Krieg gab wie den, der gerade zu Ende gegangen war. Seine Vierzehn Punkte und sein Völkerbund sollten Werkzeuge sein, mit denen zerstrittene Nationen ihre Konflikte friedlich zu lösen vermochten. In der Geschichte der Zivilisation hatte sich noch kein Politiker ein so hohes Ziel gesteckt: Wenn Wilson Erfolg hatte, würde es eine neue Weltordnung geben.
Um drei Uhr nachmittags stieg die First Lady, Edith Wilson, am Arm von General Pershing die Gangway hinunter, gefolgt vom Präsidenten mit Zylinder.
Die Stadt Brest empfing Wilson als heldenhaften Befreier. Lang lebe Wilson , stand auf den Bannern, Verteidiger der Rechte aller Völker. An jedem Gebäude flatterte das Sternenbanner. Die Menge drängte sich auf den Gehsteigen; viele Frauen trugen den traditionellen bretonischen Spitzenkopfputz. Überall dudelten bretonische Sackpfeifen. Auf diese Instrumente hätte Gus allerdings gut verzichten können.
Der französische Außenminister hielt eine Willkommensansprache. Gus stand mit den amerikanischen Reportern zusammen. Er bemerkte eine kleine Frau mit einer großen Pelzkappe. Als sie den Kopf drehte, sah er, dass ihr schönes Gesicht von einem dauerhaft geschlossenen Auge entstellt wurde. Gus lächelte: Es war Rosa Hellman. Er freute sich schon darauf, von ihr zu hören, wie sie diese Friedenskonferenz sah.
Nach den Ansprachen stieg die Präsidentendelegation in den Nachtzug, der sie ins vierhundert Meilen entfernte Paris bringen sollte. Der Präsident schüttelte Gus die Hand und sagte: »Freut mich, dass Sie wieder im Team sind.«
Wilson wollte während der Pariser Friedenskonferenz vertraute Gesichter um sich haben. Sein oberster Berater war Colonel House, der blasse Texaner, schon seit Jahren Wilsons inoffizieller außenpolitischer Berater. Gus wäre das niederrangigste Mitglied der Crew.
Wilson wirkte müde, als er sich mit seiner Frau in seine Suite zurückzog. Gus machte sich Sorgen. Er hatte Gerüchte gehört, dass es mit der Gesundheit des Präsidenten nicht zum Besten stehe. 1906 war hinter Wilsons linkem Auge ein Blutgefäß geplatzt und hatte zeitweilige Blindheit hervorgerufen; die Ärzte hatten hohen Blutdruck
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