Sturz der Titanen
siegreichen Gegner und verließ das Podium. Die anderen Labour-Mitglieder kamen mit einer Flasche Scotch und wollten Totenwache halten, aber Bernie und Ethel gingen nach Hause.
»Ich bin nicht dafür geschaffen, Eth«, sagte Bernie, als sie Wasser für Kakao aufsetzte.
»Du hast dich gut geschlagen«, entgegnete sie. »Wir wurden von diesem verdammten Lloyd George aufs Kreuz gelegt.«
Bernie schüttelte den Kopf. »Ich kann die Menschen nicht mitreißen«, sagte er. »Ich bin ein Denker und Planer. Immer wieder habe ich versucht, so zu den Leuten zu reden wie du und ihnen Begeisterung für unsere Sache einzupflanzen, aber ich habe es nie geschafft. Wenn du zu den Menschen sprichst, verehren sie dich. Das ist der Unterschied.«
Ethel wusste, dass er recht hatte.
Am nächsten Morgen war den Zeitungen zu entnehmen, dass das Wahlergebnis in Aldgate die Stimmverhältnisse im ganzen Land widerspiegelte. Die Koalition hatte 525 von 707 Sitzen errungen, eine der größten Mehrheiten in der Geschichte des Parlaments. Das Volk hatte für den Mann gestimmt, der den Krieg gewonnen hatte.
Ethel war bitter enttäuscht. Nach wie vor regierten die alten Männer das Land. Die Politiker, die Millionen in den Tod geschickt hatten, feierten, als hätten sie etwas Großartiges vollbracht. Doch was hatten sie erreicht? Schmerz, Hunger, Zerstörung. Zehn Millionen Menschen waren sinnlos gestorben.
Der einzige Hoffnungsschimmer war, dass die Labour-Partei ihre Position hatte ausbauen können: Sie hatte sechzig Sitze errungen, nachdem es vorher zweiundvierzig gewesen waren.
Es waren vor allem die gegen Lloyd George eingestellten Liberalen, die Verluste zu verbuchen hatten. Sie hatten nur dreißig Wahlkreise erringen können, und Asquith hatte seinen Sitz verloren. »Das könnte das Ende der Liberalen Partei sein«, sagte Bernie, als er sich zum Mittagessen eine Scheibe Brot bestrich. »Sie hat die Leute im Stich gelassen. Jetzt ist die Labour-Partei die Opposition. Das ist vielleicht unser einziger Trost.«
Gerade als sie aufbrechen wollten, kam die Post. Ethel sah die Briefe durch, während Bernie Lloyd die Schuhe zuband. Ein Brief stammte von Billy und war in ihrem geheimen Code geschrieben.
Ethel setzte sich an den Küchentisch, um ihn zu entschlüsseln. Sie unterstrich jedes dritte Wort und schrieb es dann auf einen Block. Je mehr Ethel von Billys Nachricht entschlüsselte, desto gebannter war sie.
»Du weißt ja, dass Billy in Russland ist«, sagte sie zu Bernie.
»Stimmt.«
»Er schreibt, dass unsere Army dort ist, um gegen die Bolschewiken zu kämpfen. Die Amerikaner sind ebenfalls dort.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Aber hör dir das hier an«, sagte sie: »›Wir wissen, dass die Weißen die Bolschewiken nicht schlagen können – aber was, wenn fremde Heere mitkämpfen? Dann ist alles möglich.‹«
Bernie blickte nachdenklich drein. »Sie könnten die Monarchie wiederherstellen.«
»Die Menschen in diesem Land würden es nicht dulden.«
»Die Menschen in diesem Land wissen gar nicht, was dort vor sich geht.«
»Dann sagen wir es ihnen«, erwiderte Ethel. »Ich schreibe einen Artikel darüber.«
»Und wer wird ihn veröffentlichen?«
»Das werden wir sehen. Vielleicht der Daily Herald .« Der Herald war linksgerichtet. »Bringst du Lloyd zur Kinderfrau?«
»Ja, sicher.«
Ethel überlegte kurz; dann schrieb sie oben auf ein Blatt Papier:
HÄNDE WEG VON RUSSLAND!
Der Anblick von Paris brachte Maud zum Weinen. Längs der breiten Boulevards zeigten Schutthaufen, wo deutsche Granaten eingeschlagen waren. In altehrwürdigen Gebäuden waren zerbrochene Fenster mit Brettern vernagelt und erinnerten Maud schmerzlich an ihren gut aussehenden Bruder mit seinem entstellten Auge. In den Baumreihen klafften Lücken, wo man alte Kastanien oder edle Platanen gefällt hatte, um deren Holz zu nutzen. Jede zweite Frau trug schwarze Trauerkleidung, und an den Straßenecken bettelten verstümmelte Soldaten um Almosen.
Maud weinte auch um Walter. Auf ihren Brief hatte sie keine Antwort bekommen. Sie hatte sich erkundigt, ob sie nach Deutschland reisen könne, aber das war unmöglich. Allein die Erlaubnis, nach Paris zu kommen, war schwer zu erhalten gewesen. Maud hatte gehofft, Walter käme mit der deutschen Delegation in die Stadt, doch es gab keine deutsche Delegation: Die besiegten Länder waren nicht zur Friedenskonferenz eingeladen. Die siegreichen Verbündeten planten, eine Übereinkunft auszuarbeiten und den
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