Sturz der Titanen
festgestellt und ihm geraten, in den Ruhestand zu gehen. Wilson hatte diesen Rat unbekümmert in den Wind geschlagen und weiter auf seine Präsidentschaftskandidatur hingearbeitet, doch in letzter Zeit litt er unter Kopfschmerzen, die ein neues Symptom des Bluthochdrucks sein konnten. Die Friedenskonferenz wäre strapaziös. Gus hoffte, dass Wilson sie durchstand.
Rosa saß im gleichen Zug. Gus nahm ihr gegenüber auf dem brokatbespannten Sitz im Speisewagen Platz. »Ich habe mich schon gefragt, ob ich dich wiedersehe«, sagte Rosa, die sich ehrlich zu freuen schien, dass sie sich begegneten.
»Ich bin von der Army abgestellt«, erklärte Gus. Er trug nach wie vor Offiziersuniform.
»In der Heimat wurde Wilson wegen der Auswahl seiner Delegierten heftig kritisiert. Nicht deinetwegen natürlich …«
»Ich bin nur ein kleiner Fisch.«
»Aber einige Stimmen sagen, er hätte seine Frau zu Hause lassen sollen.«
Gus zuckte mit den Schultern. Die Frage erschien ihm banal. Nachdem er die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs gesehen hatte, kamen ihm so manche Alltagssorgen, von denen die Menschen in Friedenszeiten geplagt wurden, schrecklich banal vor.
»Vor allem hat er keinen einzigen Republikaner mitgebracht«, sagte Rosa.
»Er will Verbündete in seinem Stab, keine Feinde«, erwiderte Gus unwillig.
»Zu Hause braucht er auch Verbündete«, sagte Rosa. »Den Kongress hat er schon verloren.«
Da hatte sie recht, dachte Gus, und es erinnerte ihn daran, wie klug sie war. Für Wilson waren die Halbzeitwahlen katastrophal ausgefallen. Die Republikaner hatten den Senat und das Repräsentantenhaus an sich gebracht. »Wie konnte das geschehen?«, fragte er. »Ich bin nicht mehr auf dem Laufenden.«
»Die Leute haben genug von Rationierung und hohen Preisen, und das Kriegsende kam ein wenig zu spät, um groß etwas daran ändern zu können. Und die Liberalen hassen das Geheimhaltungsgesetz, weil es Wilson erlaubt, jeden ins Gefängnis zu stecken, der gegen den Krieg ist. Er hat es sogar benutzt: Eugene Debs wurde zu zehn Jahren verurteilt.« Debs war Präsidentschaftskandidat der Sozialisten gewesen. Zornig fuhr Rosa fort: »Man kann nicht seine Gegner hinter Gitter stecken und trotzdem so tun, als glaube man an die Freiheit.«
»In Kriegszeiten muss die Freiheit manchmal eingeschränkt werden«, sagte Gus.
»Die amerikanischen Wähler sind da offensichtlich anderer Meinung. Und da ist noch etwas: Wilson hat in Washington die Rassentrennung eingeführt.«
Gus wusste nicht, ob die Schwarzen je auf das gleiche Niveau kommen würden wie die Weißen, aber wie die meisten liberalen Amerikaner vertrat er die Ansicht, dass man dies am besten herausfand, wenn man ihnen bessere Chancen im Leben gab und sich dann anschaute, was sie daraus machten. Doch Wilson und seine Frau kamen aus den Südstaaten und sahen das anders. »Edith Wilson wollte ihr Dienstmädchen nicht mit nach London nehmen, weil sie Angst hatte, es könnte hier verwöhnt werden«, sagte Gus. »Sie sagt, die Briten seien zu höflich zu den Negern.«
»Woodrow Wilson ist nicht mehr der Liebling der amerikanischen Linken«, erklärte Rosa. »Und das bedeutet, er braucht für seinen Völkerbund die Unterstützung der Republikaner.«
»Henry Cabot Lodge dürfte sich übergangen fühlen.« Lodge war ein Republikaner des rechten Flügels.
»Du kennst doch die Politiker«, entgegnete Rosa. »Sie sind empfindlich wie die Schulmädchen und noch viel rachsüchtiger. Lodge ist Vorsitzender des außenpolitischen Komitees im Senat. Wilson hätte ihn nach Paris mitnehmen sollen.«
»Lodge ist erklärter Gegner des Völkerbundgedankens«, wandte Gus ein.
»Intelligenten Menschen zuhören zu können, die anderer Meinung sind als man selbst, ist eine seltene Gabe – aber ein Präsident sollte sie besitzen. Hätte er Lodge mit hierhergebracht, wäre der Mann ausgeschaltet gewesen. Als Mitglied des Stabes könnte er nicht nach Hause reisen und bekämpfen, was immer in Paris beschlossen wird.«
Vermutlich hatte sie recht. Aber Wilson war ein Idealist, der daran glaubte, dass die Kraft der Rechtschaffenheit sämtliche Hindernisse überwand. Er unterschätzte allerdings den Wert der Schmeichelei, des Bettelns und der Verführung.
Das Essen zu Ehren des Präsidenten war gut. Sie speisten fangfrische Atlantik-Seezunge in Buttersoße. So gut hatte Gus zum letzten Mal vor Ausbruch des Krieges gegessen. Belustigt beobachtete er, wie herzhaft Rosa zulangte. Dabei hatte sie eine
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