Sturz der Titanen
werden.
Umso größer war ihr Entsetzen, als sie am nächsten Morgen beim Frühstück die Daily Mail aufschlug. Der Leitartikel war überschrieben mit: DIE HUNNEN MÜSSEN ZAHLEN . Die Zeitung führte an, dass Lebensmittelhilfen nach Deutschland geschickt werden sollten – aber nur, »weil Deutschland, wenn es verhungert, seine Schulden nicht zahlen kann«. Der deutsche Kaiser müsse wegen seiner Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden, hieß es weiter. Die Mail heizte die Rachelust weiter an, indem sie an oberster Stelle in der Leserbriefspalte eine Hetzschrift der Viscountess Templetown veröffentlichte, die forderte: SPERRT DIE HUNNEN AUS .
»Wie lange sollen wir uns denn noch gegenseitig hassen?«, sagte Maud zu Tante Herm. »Ein Jahr? Zehn Jahre? Für immer?«
Doch Maud hätte nicht überrascht sein sollen. Die Mail hatte bereits eine Hetzkampagne gegen die dreißigtausend Deutschen geführt, die bei Kriegsausbruch in Großbritannien lebten – die meisten davon waren seit vielen Jahren hier und betrachteten das Land als ihre Heimat. Infolgedessen waren Familien auseinandergerissen worden, und Tausende harmloser Menschen hatten Jahre in britischen Internierungslagern verbracht. So dumm es auch war: Die Leute brauchten jemanden, den sie hassen konnten, und die Zeitungen waren gerne bereit, dieses Bedürfnis zu befriedigen.
Maud kannte Lord Northcliffe, den Eigentümer der Mail . Wie alle großen Pressezaren glaubte er tatsächlich das Gewäsch, das er veröffentlichte. Sein Talent bestand darin, die dümmsten Vorurteile seiner Leserschaft so auszudrücken, dass sie plausibel erschienen, sodass Beschämendes als respektabel und Blödsinn als Weisheit dastand. Deshalb kauften die Leute seine Zeitung.
Maud wusste aber auch, dass Lloyd George unlängst Northcliffe persönlich eine Abfuhr erteilt hatte. Der selbstherrliche Großverleger hatte sich als Mitglied der britischen Delegation in der bevorstehenden Friedenskonferenz angeboten und beleidigt reagiert, als der Premierminister ihn zurückwies.
Maud war besorgt. In der Politik musste man sich manchmal mit verabscheuungswürdigen Individuen abgeben, aber das schien Lloyd George vergessen zu haben. Maud stellte sich die bange Frage, wie stark sich die böswillige Propaganda der Mail auf die Wahl auswirken würde.
Einige Tage später sollte sie es erfahren.
Sie besuchte eine Kundgebung in einer Stadthalle im Londoner Eastend. Ethel Leckwith saß im Publikum; ihr Mann Bernie stand auf dem Podium. Maud hatte ihren Streit mit Ethel nicht beigelegt, obwohl sie jahrelang Freundinnen und Kolleginnen gewesen waren. Stattdessen zitterte sie noch immer vor Wut, wenn sie daran dachte, wie Ethel und ihre Gesinnungsgenossinnen das Parlament dazu bewegt hatten, ein Gesetz zu verabschieden, das Frauen beim Stimmrecht Männern gegenüber im Nachteil hielt. Zugleich aber vermisste sie Ethels unerschütterlich gute Laune und ihr strahlendes Lächeln.
Während der Vorstellungen der Redner saßen die Zuhörer unruhig auf ihren Bänken. Noch immer waren es überwiegend Männer, auch wenn mittlerweile ein paar Frauen wählen durften. Maud vermutete allerdings, dass die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen noch gar nicht begriffen hatten, dass sie sich nun für politische Diskussionen interessieren sollten. Gleichzeitig hatte sie den Eindruck, dass die meisten Frauen von dem rauen Umgangston abgestoßen wurden, der bei politischen Versammlungen herrschte, wenn Männer auf einem Podium standen und in einem fort redeten, während das Publikum jubelte oder buhte.
Bernie hielt die erste Rede, aber er hatte kein rhetorisches Talent, wie Maud rasch erkannte. Er sprach über das neue Programm der Labour-Partei, besonders über Klausel vier, in der gefordert wurde, dass die Produktionsmittel zu öffentlichem Eigentum wurden. Maud fand die Klausel interessant, weil sie eine klare Trennlinie zwischen Labour-Anhängern und wirtschaftsfreundlichen Liberalen zog; schon bald aber begriff sie, dass sie einer Minderheit angehörte. Der Mann neben ihr wurde unruhig und brüllte schließlich: »Werdet ihr die Deutschen aus unserem Land rauswerfen?«
Bernie war aus dem Konzept gebracht. Er murmelte irgendetwas; dann sagte er: »Ich werde alles tun, wovon der arbeitende Mann profitiert.« Maud fragte sich, wo die arbeitende Frau blieb und vermutete, dass Ethel genau das Gleiche dachte. Bernie fuhr fort: »Aber ich betrachte ein Vorgehen gegen Deutsche in Großbritannien nicht als
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