Sturz der Titanen
den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.«
»Das ist eine Lüge«, sagte Walter wütend. »Eine dumme, ignorante, gemeine, verdammte Lüge.« Deutschland war nicht unschuldig, das war ihm bewusst, und diese Meinung hatte er seinem Vater gegenüber auch immer wieder vertreten. Doch er hatte die diplomatische Krise im Sommer 1914 miterlebt und kannte jeden kleinen Schritt auf dem Weg in den Krieg: Es gab keine einzelne Nation, bei der die alleinige Schuld lag. Auf beiden Seiten war man bestrebt gewesen, sein jeweiliges Land zu schützen; niemand hatte beabsichtigt, die Welt in den größten Krieg der Geschichte zu stürzen: nicht Asquith, nicht Poincaré, weder Wilhelm II . noch der Zar oder der österreichische Kaiser. Selbst Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajevo, hatte mit Entsetzen reagiert, als ihm klar wurde, was er da entfacht hatte. Doch nicht einmal er war »für alle Verluste und Schäden verantwortlich« zu machen.
Kurz nach Mitternacht begegnete Walter seinem Vater, als sie beide eine Pause machten und einen Kaffee tranken, um wach bleiben und weiter arbeiten zu können. »Das ist empörend!«, wütete Otto von Ulrich. »Wir haben einem Waffenstillstand auf der Grundlage von Wilsons Vierzehn-Punkte-Progamm zugestimmt – aber dieser sogenannte Vertrag hat nichts mit den Vierzehn Punkten zu tun!«
Ausnahmsweise war Walter mit seinem Vater einer Meinung.
Am Morgen war die Übersetzung gedruckt, und die Exemplare waren per Sonderkurier auf dem Weg nach Berlin – ein klassisches Beispiel für deutsche Tüchtigkeit, dachte Walter, der die Tugenden seines Landes umso deutlicher sah, als es nun herabgesetzt wurde. Er war zu erschöpft und aufgewühlt, um zu schlafen, und beschloss daher, einen Spaziergang zu machen, bis er sich so weit entspannt hatte, dass er zu Bett gehen konnte.
Er verließ das Hotel und ging in den Park. Der Rhododendron blühte. Für Frankreich war es ein schöner Morgen, für Deutschland ein düsterer. Walter fragte sich, welche Auswirkungen der Friedensvertrag auf die ohnehin um ihr Überleben kämpfende sozialdemokratische deutsche Regierung hatte. Würden die Menschen verzweifeln und sich dem Bolschewismus zuwenden?
Walter war fast alleine in dem großen Park; nur eine junge Frau in einem hellen Frühlingsmantel saß unter einer Kastanie auf einer Bank. Höflich berührte er die Krempe seines Klapprandhutes, als er in Gedanken versunken an ihr vorbeiging.
»Walter«, sagte sie.
Ihm stockte das Herz. Er glaubte die Stimme zu erkennen, aber das musste ein Irrtum sein. Er drehte sich um und starrte die junge Frau an.
Sie stand auf. »Oh, Walter«, sagte sie. »Erkennst du mich denn nicht?«
Es war Maud.
Das Blut sang ihm in den Adern. Er machte zwei Schritte auf sie zu, und sie warf sich in seine Arme. Er drückte sie fest an sich, vergrub sein Gesicht an ihrem Hals und atmete ihren Duft ein, der ihm trotz der langen Zeit, die verstrichen war, noch immer vertraut war. Walter küsste sie auf die Stirn, auf die Wange, auf den Mund. Er sprach zu ihr und küsste sie dabei, doch weder Worte noch Küsse konnten ausdrücken, was er empfand.
Irgendwann fragte Maud: »Liebst du mich noch?«
»Mehr denn je«, antwortete er. »Mehr denn je.«
Maud streichelte Walters nackte Brust, als sie nebeneinander auf dem Bett lagen, nachdem sie sich geliebt hatten. »Du bist dünn«, sagte sie. Sein Bauch war eingefallen, und seine Rippen standen hervor. Maud beschloss, ihn mit Buttercroissants und Foie gras zu mästen.
Sie waren in einem Schlafzimmer in einem Gasthof ein paar Meilen außerhalb von Paris. Das Fenster stand offen, und ein milder Frühlingswind ließ die primelgelben Vorhänge wehen. Maud hatte das Gasthaus vor Jahren entdeckt, als Fitz es für Schäferstündchen mit einer verheirateten Frau benutzt hatte, der Gräfin de Cagnes. Das Etablissement, kaum mehr als ein großes Haus in einem kleinen Dorf, besaß nicht einmal einen Namen. Männer reservierten einen Tisch für das Mittagessen und nahmen sich ein Zimmer für nachmittags. Vielleicht gab es auch in London solche Gasthöfe, doch irgendwie kam Maud dieses Arrangement sehr französisch vor.
Sie nannten sich Mr. und Mrs. Woolridge, und Maud trug den Ehering, den sie fast fünf Jahre lang versteckt gehalten hatte. Zweifellos war die diskrete Hotelbesitzerin überzeugt davon, dass das Paar nur behauptete, verheiratet zu sein, aber das war in Ordnung, solange sie nicht
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