Sturz der Titanen
zwei Jahren zu schreiben.
Walter und sein Vater waren am Vortag zusammen mit einhundertachtzig Politikern, Diplomaten und Beamten des Auswärtigen Amtes als Mitglieder der deutschen Delegation zur Friedenskonferenz angereist. Die französische Eisenbahn hatte die Geschwindigkeit ihres Sonderzuges auf Schritttempo gesenkt, als der Zug durch die verwüstete Landschaft Nordostfrankreichs gerollt war. »Als wären wir die Einzigen, die hier Granaten abgefeuert hätten«, sagte Otto von Ulrich verärgert.
Von Paris aus wurden sie in Bussen in die Kleinstadt Versailles gebracht und am Hôtel des Réservoirs abgesetzt. Ihr Gepäck wurde auf dem Hof abgeladen; dann ließ man sie unhöflich wissen, dass sie es selbst in die Zimmer tragen könnten. Walter seufzte. Ihnen gegenüber erwiesen die Franzosen sich schon mal nicht als großmütige Sieger.
»Die Franzosen haben nicht gesiegt, das ist es ja gerade«, lautete Ottos Kommentar. »Sie haben den Krieg nicht verloren, nicht ganz jedenfalls, weil die Briten und Amerikaner sie gerettet haben. Wie sollten sie damit prahlen? Wir haben sie geschlagen, und sie wissen es, und das verletzt sie in ihrem aufgeblasenen Stolz.«
Im Hotel war es kalt und dunkel, aber draußen blühten Magnolien und Apfelbäume. Es war den Deutschen erlaubt, auf dem Gelände des Châteaus spazieren zu gehen und die Geschäfte zu besuchen. Vor dem Hotel hatte sich stets eine kleine Menschenmenge versammelt; das einfache Volk war nicht so boshaft wie seine Vertreter. Manchmal buhten die Leute, aber meistens wollten sie nur einen neugierigen Blick auf den Feind werfen.
Gleich am ersten Tag schrieb Walter an Maud. Ihre Ehe erwähnte er nicht – er war sich noch nicht sicher, ob er es wagen konnte, und seine gewohnte Vorsicht ließ sich nur schwer ablegen. Er teilte Maud mit, wo er war, beschrieb das Hotel und dessen Umgebung und bat sie um Antwort. Dann ging er in die Stadt, erwarb eine Briefmarke und gab den Brief in die Post.
Angespannt wartete er auf die Antwort. Wenn Maud noch lebte – liebte sie ihn noch? Walter war sich fast sicher. Doch seit sie ihn in einem Stockholmer Hotelzimmer voller Verlangen umarmt hatte, waren zwei Jahre vergangen. Und es gab Abertausende von Männern, die aus dem Krieg heimkehrten und feststellen mussten, dass ihre Freundinnen oder Frauen sich während der langen Trennung in einen anderen verliebt hatten.
Einige Tage später wurden die führenden Mitglieder der Delegation ins Hôtel Trianon am anderen Ende des Parks gerufen, wo ihnen feierlich Exemplare des Friedensvertrages ausgehändigt wurden, den die siegreichen Entente-Mächte formuliert hatten. Der Vertrag war auf Französisch abgefasst. Im Hôtel des Réservoirs wurden die Exemplare an Übersetzergruppen übergeben. Eine dieser Gruppen wurde von Walter geleitet. Dann machte man sich daran, den Vertragstext zu studieren.
Es war noch schlimmer, als Walter befürchtet hatte.
Das französische Heer sollte das Rheinland fünfzehn Jahre lang besetzen. Das Saarland sollte für die gleiche Zeit dem Völkerbund unterstellt werden; die Kohlebergwerke sollten dabei unter französische Kontrolle kommen. Elsass-Lothringen sollte ohne Volksabstimmung an Frankreich zurückgegeben werden; die französische Regierung fürchtete offenbar, die Bevölkerung könnte sich entscheiden, deutsch zu bleiben. Der neue Staat Polen war so groß, dass er die Heimat von drei Millionen Deutschen und die schlesischen Kohlegebiete mit einschloss. Deutschland sollte alle Kolonien verlieren: Die Sieger teilten sie unter sich auf wie Räuber die Beute. Außerdem musste Deutschland sich verpflichten, Reparationen ungenannter Höhe zu zahlen – mit anderen Worten, einen Blankoscheck zu unterzeichnen.
Walter fragte sich, was für ein Staat Deutschland nach Meinung der Sieger werden sollte. Hatten sie ein gewaltiges Sklavenlager im Sinn, wo jeder von der Hand in den Mund lebte und sich für die Siegermächte zu Tode schuftete? Wenn er, Walter, ein solcher Sklave sein sollte, wie konnte er dann auch nur daran denken, mit Maud einen Hausstand zu gründen und Kinder zu haben?
Das Allerschlimmste aber war die Kriegsschuldklausel.
Artikel 231 des Vertrages lautete: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch
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