Sturz der Titanen
am gleichen Tag wie der Friedensvertrag.«
Walter musterte sie zweifelnd. »Wie sollen wir das anstellen?«
»Ich rede mit dem Redakteur des Tatler . Ich bin dort gut gelitten. Ich habe ihnen immer viel Material geliefert.«
Walter lächelte. »Lady Maud Fitzherbert – stets nach der neuesten Mode gekleidet.«
»Wovon redest du?«
Er griff nach seiner Brieftasche auf dem Nachttisch und nahm einen ausgeschnittenen Zeitschriftenartikel hervor. »Mein einziges Bild von dir«, sagte er.
Sie nahm es. Das Papier war weich vom Alter und zur Farbe von Sand vergilbt. Sie musterte das Foto. »Das wurde vor dem Krieg aufgenommen.«
»Seitdem hatte ich es immer bei mir. Und genauso wie ich hat es den Krieg überlebt.«
In Mauds Augen schimmerten Tränen, und das verblasste Bild verschwamm noch mehr.
»Nicht weinen«, sagte er und umarmte sie.
Sie drückte das Gesicht an seine bloße Brust und schluchzte. Manche Frauen weinten beim geringsten Anlass, aber Maud war nie so gewesen. Jetzt aber heulte sie haltlos. Sie weinte um die verlorenen Jahre, die Millionen toter junger Männer, das unermessliche Leid der Überlebenden und die versunkene Welt der Vorkriegszeit. Sie vergoss alle Tränen, die sich in fünf Jahren Selbstbeherrschung aufgestaut hatten.
Als es vorbei war, trocknete sie ihre Wangen und küsste Walter verlangend, und sie liebten sich erneut.
Am 16. Juni holte Fitz’ blauer Cadillac Walter am Hotel ab und brachte ihn nach Paris. Maud war sicher, der Tatler würde ein Foto von ihnen beiden haben wollen. Walter trug einen Tweedanzug, der ihm vor dem Krieg in London maßgeschneidert worden war. In der Taille war er zu weit; aber jeder Deutsche lief in Sachen herum, die ihm zu groß waren.
Walter hatte im Hôtel des Réservoirs ein kleines Nachrichtenbüro eingerichtet; er überwachte die französischen, britischen, amerikanischen und italienischen Zeitungen und sammelte Gerüchte, die von der deutschen Delegation aufgeschnappt wurden. Er wusste, dass zwischen den Siegermächten übellaunig über die deutschen Gegenvorschläge gestritten wurde. Der britische Premier Lloyd George zeigte sich bereit, den Vertragsentwurf neu zu überdenken. Der französische Ministerpräsident Clemenceau allerdings erklärte, er habe sich bereits großzügig gezeigt und gerate schon in Rage, wenn eine Änderung auch nur vorgeschlagen werde. Erstaunlicherweise zeigte sich auch Woodrow Wilson unerbittlich. Er hielt den Entwurf für einen gerechten Vorschlag, und wenn Wilson sich einmal entschieden hatte, blieb er taub für jede Kritik.
Die Alliierten verhandelten außerdem Friedensverträge für Deutschlands Verbündete: Österreich, Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich. Sie schufen neue Länder wie Jugoslawien und die Tschechoslowakei, und der Nahe Osten wurde in britische und französische Zonen aufgeteilt. Außerdem stritten die Delegierten sich darüber, ob mit Lenin Frieden geschlossen werden solle. Auf der ganzen Welt waren die Völker kriegsmüde, doch einige mächtige Männer waren noch immer darauf aus, die Bolschewiken zu bekämpfen. Die britische Daily Mail wollte eine Verschwörung internationaler jüdischer Geldleute aufgedeckt haben, die das Moskauer Regime unterstützte – eine der unglaubwürdigeren Hirngespinste des Blattes.
Was den Friedensvertrag mit Deutschland anging, wurde Lloyd George von Wilson und Clemenceau überstimmt. Am Morgen erreichte die deutsche Delegation im Hôtel des Réservoirs eine ungeduldige Note, die ihr drei Tage einräumte, um dem Vertragsentwurf zuzustimmen.
Walter fragte sich düster, welche Zukunft seinem Land noch blieb, als er im Fond von Fitz’ Wagen saß. Es wäre wie in einer afrikanischen Kolonie, dachte er; die primitiven Ureinwohner arbeiten nur, damit ihre fremden Herren reicher werden. In einem solchen Land wollte er keine Kinder großziehen.
Maud wartete im Atelier des Fotografen. Sie sah wunderschön aus in ihrem zarten Sommerkleid von Paul Poiret, einem Modeschöpfer, von dem sogar Walter schon gehört hatte.
Im Atelier stand ein gemalter Hintergrund, der einen Garten in voller Blüte zeigte. Maud fand ihn geschmacklos; deshalb stellten sie sich vor die Vorhänge des Esszimmers, die angenehm schlicht waren. Zuerst standen sie wie Fremde nebeneinander, ohne sich zu berühren. Der Fotograf schlug vor, dass Walter vor Maud niederknien sollte, aber das war ihnen dann doch zu gefühlsduselig. Am Ende fanden sie eine Position, die allen zusagte; sie hielten sich
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