Sturz der Titanen
Dewar legte ihre besten Manieren an den Tag. Sie küsste Rosa auf beide Wangen und sagte: »Wie wunderbar gesund ihr beide ausseht. So viel Farbe im Gesicht. Miss Hellman, ich freue mich, Sie kennenzulernen, und ich hoffe, wir werden Freundinnen.«
»Sie sind sehr freundlich«, erwiderte Rosa. »Es wäre wunderbar, wenn ich mich Ihre Freundin nennen dürfte.«
Das Kompliment freute Mutter. Sie wusste, dass sie eine Grande Dame der Gesellschaft von Buffalo war und hielt es nur für angemessen, dass eine junge Frau ihr Respekt erwies. Das hatte Rosa auf Anhieb erkannt. Kluges Mädchen, dachte Gus. Und großmütig, wenn man bedachte, dass sie tief in ihrem Inneren alle Autorität verabscheute.
»Ich kenne Fritz Hellman, Ihren Bruder«, sagte Mutter. Fritz spielte Violine im Buffalo Symphony Orchestra, dessen Verwaltungsrat Mutter angehörte. »Er hat ein wunderbares Talent.«
»Danke. Wir sind sehr stolz auf ihn.«
Mutter machte Small Talk, und Rosa überließ ihr die Führung. Gus musste unwillkürlich daran denken, dass er schon einmal ein Mädchen mit nach Hause gebracht hatte, das er hatte heiraten wollen: Olga Vyalov. Damals hatte Mutter anders reagiert: Sie war höflich gewesen, doch Gus hatte sofort gesehen, dass sie es nicht ehrlich gemeint hatte. Heute schien es anders zu sein.
Gus hatte seine Mutter gestern nach den Vyalovs gefragt. Lew Peschkow war als Dolmetscher nach Sibirien geschickt worden. Olga nahm nur an wenigen gesellschaftlichen Ereignissen teil; sie schien sich ganz auf die Erziehung ihrer Tochter zu konzentrieren. Joseph hatte bei Gus’ Vater, dem Senator, Lobbyarbeit betrieben und mehr Unterstützung für die Weißen verlangt. »Er scheint zu glauben, die Bolschewiken seien schlecht für das Familiengeschäft der Vyalovs in Petrograd«, hatte Gus’ Mutter gesagt.
»Das ist das Beste, was ich je über die Bolschewiken gehört habe«, hatte Gus erwidert.
Nach dem Tee zogen sie sich erst einmal um. Gus machte die Vorstellung nervös, dass Rosa im Nachbarzimmer duschte. Er hatte sie noch nie nackt gesehen. Sie hatten leidenschaftliche Stunden im Hotelzimmer in Paris verbracht, doch zu Geschlechtsverkehr war es nie gekommen. »Ich hasse es, so altmodisch zu sein«, hatte Rosa entschuldigend gesagt. »Aber irgendwie habe ich das Gefühl, wir sollten warten.« Eigentlich war sie gar keine richtige Anarchistin.
Rosas Eltern kamen zum Dinner. Gus zog eine kurze Smokingjacke an und ging nach unten. Er schenkte seinem Vater einen Scotch ein; er selbst trank nichts, denn er hatte das Gefühl, er würde seinen Verstand noch brauchen.
Rosa kam in einem schwarzen Kleid herunter. Sie sah atemberaubend aus. Ihre Eltern erschienen um Punkt sechs Uhr. Norman Hellman trug eine weiße Fliege und Schwalbenschwanz. Das passte zwar nicht ganz für ein Familiendinner, aber vielleicht besaß er keinen Smoking. Er war ein Elf von einem Mann mit charmantem Lächeln, und Gus sah sofort, dass Rosa viel von ihm hatte. Er trank ziemlich schnell zwei Martinis; aber das blieb auch das einzige Anzeichen für seine Nervosität. Anschließend trank er keinen Alkohol mehr. Rosas Mutter, Hilda, war eine schlanke Schönheit mit wunderbaren langen Fingern. Gus konnte sie sich nur schwer als Hausmädchen vorstellen, und sein Vater war sofort von ihr hingerissen.
Als sie sich zum Essen setzten, fragte Dr. Hellman: »Wie sehen Ihre Karrierepläne aus, Gus?«
Er hatte das Recht, diese Frage zu stellen – schließlich war er der Vater der Frau, die Gus liebte –, doch Gus wusste nicht recht, was er antworten sollte. »Solange der Präsident mich braucht, werde ich für ihn arbeiten«, sagte er.
»Im Augenblick hat er einen ziemlich harten Job.«
»Das stimmt. Der Senat will den Vertrag von Versailles nicht ratifizieren.« Gus versuchte, nicht allzu verbittert zu klingen. »Immerhin hat Wilson die Europäer davon überzeugt, einen Völkerbund zu gründen. Da kann ich mir kaum vorstellen, dass ausgerechnet die Amerikaner sich dieser Idee jetzt widersetzen.«
»Senator Lodge versteht sich hervorragend darauf, Ärger zu machen.«
Gus hielt Senator Lodge für einen egozentrischen Hurensohn. »Der Präsident hat Lodge nicht mit nach Paris genommen, und nun will er seine Rache.«
Gus’ Vater war sowohl mit dem Präsidenten als auch mit dem Senator befreundet. »Woodrow hat den Völkerbund in den Friedensvertrag eingebunden«, sagte er, »weil er der Meinung war, wir könnten diesen Vertrag unmöglich ablehnen und müssten
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