Sturz der Titanen
»Wir reisen heute Abend ab«, sagte er. »Die ganze Delegation.«
»So bald schon!« Daran, was nach der Unterzeichnung geschehen würde, hatte Maud kaum gedacht. Sie war nicht fähig gewesen, über ein Ereignis von solch dramatischer Bedeutung hinauszublicken.
Im Unterschied zu ihr hatte Walter bereits Pläne für die Zukunft geschmiedet. »Komm mit mir«, sagte er nur.
»Ich bekomme keine Genehmigung, nach Deutschland einzureisen.«
»Wessen Genehmigung brauchst du denn? Ich habe für dich einen deutschen Pass auf den Namen Maud von Ulrich.«
Sie konnte nicht fassen, was sie da hörte. »Wie hast du das geschafft?«, fragte sie, obwohl es bedeutsamere Fragen gab, die ihr durch den Kopf schossen.
»Das war nicht schwer. Du bist die Frau eines deutschen Staatsbürgers. Du hast ein Recht auf einen deutschen Pass. Ich habe meinen Einfluss nur dazu benutzt, den Vorgang der Ausstellung auf einige Stunden zu verkürzen.«
Maud starrte ihn an. Das alles kam so plötzlich.
»Kommst du mit?«, fragte Walter.
Sie sah schreckliche Angst in seinen Augen. Er fürchtete, sie könnte es sich in letzter Minute anders überlegen. Walters Angst, sie zu verlieren, rührte Maud zu Tränen. Sie konnte Gott danken, so leidenschaftlich geliebt zu werden. »Ja«, sagte sie. »Ja, ich komme mit. Natürlich komme ich mit dir.«
Er war nicht überzeugt. »Bist du denn auch sicher, dass du es wirklich willst?«
Sie nickte. »Kennst du die Geschichte von Ruth in der Bibel?«
»Natürlich. Warum fragst du?«
Maud hatte das Buch Ruth in den vergangenen Wochen mehrmals gelesen; nun zitierte sie jene Worte, die sie so berührt hatten: »›Wo du hingehst, dahin gehe auch ich; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst …‹« Sie hielt inne; für einen Moment versagte ihr die Stimme. Sie schluckte mühsam und fuhr fort: »›Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden.‹«
Walter lächelte, aber in seinen Augen standen Tränen. »Danke«, sagte er.
»Ich liebe dich«, sagte sie schlicht. »Wann geht der Zug?«
Kapitel 38
August bis Oktober 1919
Gus und Rosa kehrten gleichzeitig mit dem Präsidenten nach Washington zurück. Im August reichten sie gemeinsam Urlaub ein und fuhren nach Buffalo. Am Tag nach ihrer Ankunft stellte Gus Rosa seinen Eltern vor.
Er war nervös und wünschte sich verzweifelt, dass seine Mutter Rosa mochte. Mutter hatte eine etwas übertrieben hohe Meinung, was die Attraktivität ihres Sohnes und seine Wirkung auf Frauen anging. Bis jetzt hatte sie bei jeder jungen Dame, die Gus auch nur erwähnt hatte, irgendeinen Fehler gefunden. Niemand war gut genug für ihn, besonders nicht in gesellschaftlicher Sicht. Hätte Gus die Tochter des Königs von England heiraten wollen, hätte Mutter wahrscheinlich gesagt: »Hast du denn kein nettes amerikanisches Mädchen aus guter Familie gefunden?«
»Das Erste, was dir an ihr auffallen wird, Mutter«, sagte Gus beim Frühstück an diesem Morgen, »ist ihr gutes Aussehen. Dann wirst du bemerken, dass sie nur ein Auge hat. Nach ein paar Minuten wirst du dann erkennen, wie klug sie ist. Und wenn du sie gut genug kennst, wirst du verstehen, dass sie die wunderbarste junge Frau auf der ganzen Welt ist.«
»Da bin ich sicher«, erwiderte Mutter mit ihrem typischen Unernst. »Wer sind ihre Eltern?«
Rosa kam am frühen Nachmittag, als Gus’ Mutter noch ihren Mittagsschlaf hielt und sein Vater in der Stadt war. Gus führte Rosa durchs Haus und über das Anwesen. Nervös fragte sie: »Du weißt doch, dass ich aus bescheidenen Verhältnissen stamme, oder?«
»Du wirst dich schon daran gewöhnen«, erwiderte Gus. »Außerdem werden wir beide nicht in solcher Pracht leben. Vielleicht ziehen wir ja in ein schmuckes kleines Haus in Washington.«
Sie spielten Tennis. Es war ein ungleiches Match: Gus mit seinen langen Armen und Beinen war ein zu starker Gegner für Rosa, und wegen ihres Auges konnte sie Entfernungen nicht richtig abschätzen. Aber sie kämpfte entschlossen, sprang jedem Ball hinterher und gewann sogar ein paar Spiele. Und in dem weißen Tenniskleid mit dem modischen, halbhohen Saum sah sie so sexy aus, dass Gus Schwierigkeiten hatte, sich auf seine Schläge zu konzentrieren.
Verschwitzt und mit roten Köpfen gingen sie zum Tee ins Haus. »Du musst jetzt so viel Toleranz aufbringen, wie du kannst«, sagte Gus vor dem Salon. »Mutter kann ein furchtbarer Snob sein.«
Aber Mrs.
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