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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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nicht, dass ihre Söhne so leben müssen wie sie«, antwortete Grigori. »Ich glaube, sie hätte uns eher sterben lassen, als die Hoffnung auf ein besseres Leben aufzugeben.«
    Katherina schaute nachdenklich drein. »Das kann man wohl als mutig bezeichnen.«
    »Das ist mehr als nur Mut«, sagte Grigori voller Überzeugung. »Das ist Heldentum.«
    »Was ist dann passiert?«
    Sie waren ins Stadtzentrum gegangen, zusammen mit Tausenden anderer Demonstranten. Als die Sonne über dem verschneiten Sankt Petersburg aufging, öffnete Grigori seinen Mantel und nahm den Schal ab. Lew gab keinen Laut von sich. Es war ein langer Marsch für einen so kleinen Jungen, doch er hatte viel zu große Angst, als dass er gejammert hätte.
    Schließlich erreichten sie den Newski-Prospekt, den breiten Boulevard, der mitten durch die Stadt führte. Hier wimmelte es bereits von Menschen. Karren, Pferdeomnibusse und Droschken sorgten für ein Verkehrsgewühl.
    Sie stießen auf Konstantin, einen Drehmaschinenführer aus den Putilow-Werken. Mit finsterer Miene berichtete er Maminka, in anderen Teilen der Stadt seien Demonstranten getötet worden. Trotzdem wurde Maminka keinen Schritt langsamer. Die Menge, die mit ihr zog, schien nicht minder entschlossen zu sein. Steten Schrittes marschierten sie an Geschäften vorbei, in denen deutsche Klaviere, Hüte aus Paris und Silbervasen für Treibhausrosen verkauft wurden. Bei den Juwelieren, die hier ihre Geschäfte hatten, konnte ein Adliger für ein einziges Schmuckstück, das er seiner Geliebten zum Geschenk machen wollte, mehr ausgeben, als ein Fabrikarbeiter in seinem ganzen Leben verdiente – zumindest hatte man Grigori es so erzählt. Sie kamen am Cinema Soleil vorbei, das Grigori für sein Leben gern einmal besucht hätte. Straßenhändler machten hier gute Geschäfte; sie verkauften Tee aus Samowaren und bunte Ballons für die Kinder.
    Am Ende der Straße erreichten die Demonstranten drei große Wahrzeichen der Stadt, die sich am Ufer der gefrorenen Newa erhoben: die Reiterstatue Peters des Großen, auch der Bronzene Reiter genannt, die Admiralität mit ihrer vergoldeten Spitze und den berühmten Winterpalast. Als Grigori die Hauptresidenz des Zaren als Zwölfjähriger zum ersten Mal gesehen hatte, hatte es ihm die Sprache verschlagen. Konnten in einem so riesigen Gebäude tatsächlich Menschen leben? Es war für ihn genauso unvorstellbar gewesen wie ein Zauberschwert oder eine Tarnkappe im Märchen.
    Der Platz vor dem Palast war weiß von Schnee. Auf der anderen Seite, unmittelbar vor dem riesigen Bauwerk, standen Kavallerie und Infanterie. Auch eine Kanone war aufgefahren worden. Die Menge sammelte sich am Rand des Platzes, hielt aus Angst vor dem Militär jedoch Abstand. Aber so, wie das Wasser aus den Kanälen der Stadt in die Newa floss, strömten immer mehr Menschen aus den umliegenden Straßen auf den Schlossplatz. Grigori, der immer weiter nach vorn geschoben wurde, bemerkte erstaunt, dass nicht alle Demonstranten Arbeiter waren: Viele trugen warme Mäntel und ordentliche Kleidung und gehörten offenbar der Mittelschicht an; außerdem waren Studenten und sogar Schüler in ihren Schuluniformen zu sehen.
    Maminka bewegte sich aus dem Schussfeld der Kanone heraus und in den Alexandrowski-Garten, den Park vor dem gelb-weißen Gebäude der Admiralität. Andere hatten die gleiche Idee, und so kam Bewegung in die Menge. Der Mann, der hier normalerweise Schlittenfahrten für Kinder aus besseren Familien veranstaltete, war nirgends zu sehen. Jeder erzählte jedem von blutigen Massakern. In der ganzen Stadt waren Demonstranten von Gewehrsalven niedergemäht oder von Kosakensäbeln zerhackt worden. Die Wut der Menge wurde immer gefährlicher und unberechenbarer, und das Gemeinschaftsgefühl der Demonstranten wuchs, standen sie doch ein und demselben Feind gegenüber.
    Grigori ließ den Blick über die lange Fassade des Winterpalasts mit ihren Hunderten von Fenstern schweifen. Wo war der Zar?
    »Später fanden wir heraus, dass er sich an diesem Morgen gar nicht im Winterpalast aufgehalten hatte«, erzählte Grigori mit verbittertem, aus Enttäuschung geborenem Tonfall. »Er war nicht einmal in der Stadt. Der Vater seines Volkes war in seinen Palast in Zarskoe Selo gereist, um dort das Wochenende mit Spaziergängen und Dominospielen zu verbringen. Aber das wussten wir damals nicht, und so haben wir nach ihm gerufen und ihn angefleht, sich seinen treuen Untertanen zu zeigen.«
    Die Menschenmenge

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