Sturz der Titanen
wuchs weiter an; die Rufe nach dem Zaren wurden lauter. Es kam zu ersten Provokationen der Demonstranten gegenüber den Soldaten. Beide Seiten wurden immer wütender und aggressiver. Plötzlich stürmte eine Gardeabteilung in den Park und befahl den Demonstranten, sofort auseinanderzugehen. Fassungslos beobachtete Grigori, wie die Soldaten mit ihren Knuten zuschlugen, manche auch mit den flachen Seiten ihrer Säbel. Aber die Demonstranten wichen keinen Zoll. Selbst die Leute im Park, die von den Gardisten bedrängt wurden, ließen sich nicht vertreiben.
Dann gingen die Soldaten in Feuerstellung.
In den vorderen Reihen der Demonstranten fielen mehrere Leute auf die Knie, nahmen ihre Kappen ab und bekreuzigten sich. Andere taten es ihnen gleich, bis auch Maminka, Grigori und Lew und die meisten Leute um sie herum in Gebetshaltung verharrten.
Stille senkte sich über den Platz. Es war eine beklemmende Stille, die Grigori fast noch mehr Angst einjagte als die Schussgeräusche vorhin. Er starrte auf die Gewehre, die auf die Demonstranten gerichtet waren. Die Soldaten erwiderten deren Blick so leidenschaftslos wie Statuen.
Dann hörte Grigori eine einzelne Trompete.
Es war der Befehl, das Feuer zu eröffnen.
Die Gewehre krachten. Überall um Grigori herum schrien Menschen und wurden zu Boden gerissen. Ein Junge, der auf eine Statue geklettert war, um besser sehen zu können, schrie auf und fiel herunter. Ein anderes Kind stürzte wie ein abgeschossener Vogel aus einem Baum.
Mit einem Mal sah Grigori, wie Maminka mit dem Gesicht voran zu Boden sank. Er glaubte, sie wollte auf diese Weise den Kugeln entgehen, und tat es ihr gleich. In diesem Moment sah er das Blut, das um ihren Kopf herum den Schnee rot färbte.
»Nein!«, schrie er. »Nein, nein, nein!«
Lew kreischte.
Grigori packte Maminka an den Schultern und zog sie hoch. Ihr Körper war schlaff. Er starrte ihr ins Gesicht. Zuerst war er verwirrt von dem Anblick, der sich ihm bot. Sein Verstand weigerte sich zu glauben, was er sah: Dort, wo ihre Stirn und ihre Augen hätten sein sollen, war nur noch eine blutige Masse.
Es war Lew, der als Erster die Wahrheit erkannte. »Sie ist tot!«, schrie er. »Maminka ist tot! Oh, liebe Maminka!«
Die Schüsse verstummten. Überall rannten, humpelten oder krochen Menschen davon. Fieberhaft versuchte Grigori, einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte er tun? Er beschloss, Maminka von hier wegzubringen, schob ihr die Arme unter die Achseln und hob sie hoch. Sie war schwer, aber die Verzweiflung verlieh Grigori Bärenkräfte.
In welcher Richtung ging es nach Hause? Grigori blickte sich um. Erst jetzt bemerkte er, dass er weinte. »Komm«, sagte er zu Lew. »Und hör auf zu flennen. Wir müssen weg hier.«
Am Rand des Schlossplatzes wurden sie von einem alten Mann angehalten, dem Tränen in den Augen standen. Er trug das blaue Hemd eines Fabrikarbeiters. »Du bist jung«, sagte er zu Grigori, und in seiner Stimme lagen Schmerz und Zorn. »Vergiss das nie. Vergiss niemals, wie der Zar heute sein Volk ermordet hat.«
Grigori nickte. »Ich werde es nicht vergessen, Väterchen.«
»Möge dir ein langes Leben beschieden sein«, sagte der alte Mann. »Lange genug, dass du dich rächen kannst. Lass den blutrünstigen Zaren für die Gräuel bezahlen.«
»Ich habe sie vielleicht eine Meile weit getragen, dann wurde ich müde und bin mit ihr in einen Omnibus gestiegen«, erzählte Grigori.
Katherina starrte ihn an. Ihr Gesicht war bleich vor Entsetzen. »Sie haben Ihre tote Mutter in einem Omnibus nach Hause gebracht?«
Grigori zuckte mit den Schultern. »Damals war mir nicht bewusst, wie verrückt das war. Meine ganze Welt war in Scherben gefallen. An diesem Tag war alles so merkwürdig, dass es mich überhaupt nicht mehr gekümmert hat.«
»Und Sie haben sich einfach hingesetzt?«
»Ja. Ich saß da mit ihrer Leiche in den Armen. Lew hockte neben mir und weinte. Die Leute haben uns angestarrt, aber mir war egal, was sie dachten. Ich wollte Maminka nach Hause bringen.«
»Und so sind Sie mit sechzehn Jahren zum Familienoberhaupt geworden.«
Grigori nickte. Obwohl die Erinnerungen schmerzten, freute er sich über Katherinas Aufmerksamkeit und ihr Interesse. Auf ihrem hübschen Gesicht spiegelten sich Faszination und Erschrecken, während sie ihm mit großen Augen lauschte.
»Und niemand, niemand hat uns geholfen«, fuhr Grigori fort, und wieder überkamen ihn Zorn und das schreckliche Gefühl, allein in einer
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