Sturz der Titanen
sie es schilderte, stand Grigori sehr viel tapferer da, als er sich fühlte, aber es freute ihn, in ihren Augen ein Held zu sein.
Lew war von dem Mädchen wie verzaubert. Er hörte ihr zu, als hätte er noch nie etwas so Faszinierendes gehört wie die Geschichte über Grigoris Heldentat. Lew lächelte, nickte und blickte jedes Mal entsprechend erstaunt oder wütend drein, je nachdem, was Katherina erzählte.
Grigori löffelte Eintopf in die Schüsseln und zog sich dann die Kiste als dritten Stuhl an den Tisch. Das Essen war gut. Grigori hatte noch eine Zwiebel dazugegeben, und der Schinkenknochen verlieh den Rüben eine fleischige Würze. Die Atmosphäre wurde entspannter, als beide Männer Anekdoten aus der Fabrik zum Besten gaben.
Nach dem Essen erkundigte sich Lew, wie Katherina in die Stadt gekommen sei.
»Mein Vater ist gestorben, und meine Mutter hat wieder geheiratet«, erzählte sie. »Allerdings hat mein Stiefvater mich meiner Mutter vorgezogen.« Sie warf den Kopf hoch, und Grigori vermochte nicht zu sagen, ob diese Geste Scham oder Trotz bedeutete. »Und Mutter hat es gemerkt, darum hat sie mich rausgeworfen.«
Grigori sagte: »Die Hälfte der Bevölkerung hier stammt aus Dörfern. Wenn das so weitergeht, ist bald keiner mehr übrig, um die Äcker zu bestellen.«
Lew fragte: »Wie war deine Reise?«
Katherina erzählte eine alltägliche Geschichte von Zugfahrkarten für die dritte Klasse und Mitfahrgelegenheiten auf Pferdefuhrwerken, aber Lew lauschte ihr gespannt und konnte den Blick nicht von ihrem hübschen Gesicht nehmen. Es dauerte nicht lange, da bemerkte Grigori, dass das Mädchen den Stuhl gedreht hatte und sich nur noch mit Lew unterhielt.
Beinahe so, als wäre ich gar nicht da, dachte Grigori traurig.
Kapitel 4
März 1914
»Also«, sagte Billy zu seinem Vater, »waren alle Bücher der Bibel ursprünglich in anderen Sprachen geschrieben und sind dann ins Englische übersetzt worden.«
»Richtig«, sagte Dah. »Und die katholische Kirche hat versucht, Übersetzungen zu verbieten. Sie wollte nicht, dass Leute wie wir die Bibel selber lesen und den Priestern widersprechen können.«
Dah war ein bisschen unchristlich, wenn er von den Katholiken sprach. Den Katholizismus schien er noch mehr zu hassen als den Atheismus. Doch er war immer zu einem Streitgespräch aufgelegt.
»Und wo sind die Originale?«, fragte Billy.
»Was für Originale?«
»Die Originalbücher der Bibel in Hebräisch und Griechisch. Wo werden sie verwahrt?«
Sie saßen sich am Küchentisch im Haus an der Wellington Row gegenüber. Es war später Nachmittag. Billy war von der Zeche nach Hause gekommen und hatte sich Hände und Gesicht gewaschen, trug aber noch seine Arbeitskleidung. Dah hatte sein Jackett aufgehängt und saß in Weste und Hemdsärmeln da, mit Schlips und Kragen – nach dem Abendessen musste er noch zu einer Gewerkschaftssitzung. Mam wärmte das Stew auf dem Feuer auf. Gramper saß bei ihnen und verfolgte das Gespräch mit einem milden Lächeln, als hätte er das alles schon einmal gehört.
»Tja, weißt du, die Originale gibt es nicht mehr«, sagte Dah. »Sie sind zu Staub zerfallen, schon vor vielen hundert Jahren. Es gibt nur Abschriften.«
»Und wo sind die?«
»An verschiedenen Orten. In Klöstern, Museen …«
»Man sollte alle zusammen aufbewahren.«
»Von jedem Buch gibt’s mehr als nur eine Kopie, und manche sind besser als die anderen.«
»Wie soll das denn gehen? Die tun sich doch bestimmt nicht unterscheiden.«
»Doch. Über die Jahre haben sich durch Menschenhand Fehler eingeschlichen.«
»Woher wissen wir dann, welche Kopie die richtige ist?«, fragte Billy erschrocken.
»Es gibt Gelehrte, die sich mit dem Vergleichen der verschiedenen Fassungen beschäftigen. Und dann einigen sie sich darauf, welche die richtige Abschrift ist und welche nicht.«
Billy war schockiert. »Du meinst, es gibt kein Buch, das unbestritten das wahre Wort Gottes ist? Die Leute streiten darüber und einigen sich dann irgendwie?«
»Genau.«
»Und woher sollen wir wissen, dass sie recht haben?«
Dah lächelte ein wenig herablassend – ein untrügliches Zeichen, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. »Gott wird sie leiten, wenn sie ihre Arbeit in Gebet und Demut tun.«
»Und wenn nicht?«
Mam stellte Suppenteller auf den Tisch. »Streite nicht mit deinem Vater«, sagte sie und schnitt vier dicke Scheiben von einem Brotlaib ab.
Gramper entgegnete: »Lass ’n doch, Cara. Lass den Jung seine
Weitere Kostenlose Bücher