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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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»Das wär’s«, sagte sie.
    Die Frauen applaudierten.
    Noch am gleichen Tag gab Ethel den Brief in die Post.
    Es kam nie eine Antwort.

    Der letzte Märzsamstag in Südwales war grau und diesig. Tief hängende Wolken verbargen die Hügelkuppen, und ein nicht enden wollender Nieselregen fiel auf Aberowen. Da der Earl und die Fürstin in London weilten, nahmen Ethel und die meisten Dienstboten sich frei und gingen in die Stadt.
    Aus London waren Polizisten herbeordert worden, um die Räumungen der Bergmannshäuser durchzusetzen; auf jeder Straße standen sie in ihren tropfnassen schweren Regenmänteln. Das ganze Land sprach vom »Witwenstreik«, und mit dem ersten Morgenzug waren Zigaretten rauchende, in ihre Notizbücher kritzelnde Journalisten aus Cardiff und London eingetroffen. Man sah sogar eine große Filmkamera auf einem Stativ.
    Ethel stand mit ihrer Familie vor dem Haus und beobachtete das Geschehen. Dah war Angestellter der Gewerkschaft, nicht von Celtic Minerals, und er war Eigentümer des Hauses, in dem er mit seiner Familie wohnte, doch die meisten Nachbarn wurden auf die Straße gesetzt. Im Laufe des Vormittags hatten sie ihre Habseligkeiten aus dem Haus geschafft: Betten, Tische und Stühle, Kochtöpfe und Nachttöpfe, ein gerahmtes Bild, eine Wanduhr, eine orangefarbene Kiste mit Steingutgeschirr und Besteck, in Zeitungspapier eingeschlagene und mit Kordel verschnürte Kleidungsstücke. Neben jeder Tür türmten sich bescheidene Habseligkeiten wie Opfergaben vor einem Tempel.
    Dahs Gesicht war eine Maske unterdrückter Wut. Billy sah aus, als hätte er sich am liebsten mit jemandem geprügelt. Gramper schüttelte immer wieder den Kopf und sagte: »So watt hab ich noch nich’ erlebt, in meinen ganzen siebzig Jahren nich’.« Mam blickte erbittert drein.
    Ethel weinte und konnte gar nicht aufhören.
    Einige Bergleute hatten den Beruf gewechselt, aber so einfach konnte ein Bergmann sich nicht an die Arbeit als Ladenverkäufer oder Busschaffner gewöhnen; die Arbeitgeber wussten das und wiesen Bewerber ab, wenn sie Kohlenstaub unter deren Fingernägeln sahen. Ein halbes Dutzend Kumpel war zur Handelsmarine gegangen; sie hatten als Heizer angeheuert und den Lohnvorschuss ihren Frauen gegeben, ehe ihre Schiffe ausgelaufen waren. Andere waren in der Hoffnung auf einen Job in die Stahlhütten nach Cardiff oder Swansea gegangen. Viele kamen übergangsweise bei Verwandten in Nachbarorten unter. Die anderen fanden bis zum Ende des Streiks Unterschlupf in einem Haus in Aberowen, in dem eine Familie wohnte, die nicht für Celtic Minerals arbeitete.
    »Der König hat nicht auf den Brief der Witwen geantwortet«, sagte Ethel zu Dah.
    »Ihr habt das ja auch falsch angepackt«, erwiderte er. »Guck dir deine Mrs. Pankhurst an. Ich halte zwar nichts vom Frauenwahlrecht, aber sie weiß jedenfalls, wie man auf sich aufmerksam macht.«
    »Was hätte ich denn tun sollen? Mich verhaften lassen?«
    »So weit hättest du nicht gehen brauchen. Hätte ich gewusst, was du vorhast, hätte ich dir geraten, eine Abschrift des Briefes an die Western Mail zu schicken.«
    »Darauf wäre ich nie gekommen.« Schuldgefühle überkamen Ethel, als ihr klar wurde, dass sie die Zwangsräumungen auf diese Weise vielleicht hätte verhindern können.
    »Die Zeitung hätte beim Palast angefragt, ob der Brief angekommen ist. Dann hätte der König darauf reagieren müssen.«
    »Oh, verdammt!«, rief Ethel. »Hätte ich dich doch gefragt!«
    »Lass das Fluchen«, sagte ihre Mutter.
    »Entschuldigung, Mam.«
    Die Londoner Polizisten beobachteten erstaunt, was vor sich ging. Sie konnten die Unnachgiebigkeit und den törichten Stolz der Einwohner von Aberowen nicht begreifen. Perceval Jones war nirgendwo zu sehen. Ein Journalist von der Daily Mail bat Dah um ein Interview, aber das Blatt war arbeiterfeindlich, und so schlug er die Bitte aus.
    In der Stadt gab es nicht genügend Handkarren; deshalb mussten die Leute einer nach dem anderen ihre Habseligkeiten fortschaffen. Es dauerte Stunden, doch am späten Nachmittag war auch der letzte Plunder vor den Häusern verschwunden, und die Schlüssel steckten außen in den Haustürschlössern. Die Polizisten fuhren nach London zurück.
    Ethel blieb noch eine Weile auf der Straße. Die Fenster der leeren Häuser sahen sie blicklos an, und das Regenwasser rann träge die Straßen hinunter. Ethel schaute über die nassen grauen Schieferplatten der Dächer hügelabwärts zu den verstreut liegenden

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