Sturz der Titanen
Tagesgebäuden am Talgrund. Bis auf eine Katze, die ein Gleis entlanglief, war nirgends eine Bewegung zu sehen. Kein Rauch stieg aus der Fördermaschine, und die beiden großen Seilscheiben oben am Förderturm standen still. In dem nicht enden wollenden Nieselregen wirkten sie trist und überflüssig.
Kapitel 5
April 1914
Die deutsche Botschaft war ein prachtvolles Gebäude in Carlton House Terrace, einer von Londons besten Adressen. Über einen baumbestandenen Garten hinweg konnte man zu den Säulen des Athenaeum sehen, eines Clubs für gebildete Gentlemen. Nach hinten hinaus führten die Ställe auf die Mall, die breite Avenue, die sich vom Trafalgar Square zum Buckingham Palace hinzog.
Walter von Ulrich wohnte nicht dort – noch nicht. Nur der Botschafter, Fürst Lichnowsky, genoss dieses Privileg. Als einfacher Militärattaché lebte Walter in einer Junggesellenwohnung zehn Minuten zu Fuß von der Botschaft entfernt an der Piccadilly. Er hoffte jedoch, eines Tages die prunkvolle Staatswohnung im Botschaftsgebäude zu bekommen. Walter war zwar kein Fürst, aber sein Vater war ein enger Freund von Wilhelm II . Außerdem sprach Walter so gut Englisch wie ein alter Etonschüler, und der war er ja auch. Er hatte zwei Jahre im Heer gedient und drei Jahre an der Kriegsschule verbracht, bevor er in den auswärtigen Dienst eingetreten war. Mit seinen achtundzwanzig Jahren war Walter ein aufgehender Stern am Himmel der Diplomatie.
Aber es war nicht das Prestige, das Walter am Posten des Botschafters faszinierte; vielmehr war er der leidenschaftlichen Überzeugung, dass es keine höhere Berufung gab, als seinem Land zu dienen. Sein Vater sah es genauso. In fast allen anderen Belangen aber waren sie unterschiedlicher Meinung.
Nun standen Vater und Sohn im Flur der Botschaft und musterten einander. Sie waren gleich groß, aber Otto war kräftiger. Sein Schnurrbart war ein altmodischer Zwirbelbart, während Walter einen modernen Bürstenschnäuzer bevorzugte. Außerdem war Otto kahlköpfig. An diesem Tag trugen beide schwarze Samtanzüge mit Kniebundhose, Seidenstrümpfe und Schnallenschuhe, dazu Degen und Dreispitz – die übliche Gewandung, um sich am britischen Königshof vorzustellen.
»Wir sehen aus, als gehörten wir auf die Bühne«, bemerkte Walter. »Was für eine lächerliche Kostümierung.«
»Im Gegenteil«, erwiderte sein Vater. »Dieser Aufzug gehört zu einer wunderbaren alten Tradition.«
Otto von Ulrich hatte den größten Teil seines Lebens im deutschen Heer verbracht. Als junger Offizier hatte er im Deutsch-Französischen Krieg seine Kompanie in der Schlacht von Sedan über eine Pontonbrücke geführt. Später war Otto einer jener Freunde gewesen, denen der junge Kaiser Wilhelm sich nach dem Bruch mit Bismarck, dem Eisernen Kanzler, zugewandt hatte. Nun war Otto ständig unterwegs. Er besuchte die europäischen Hauptstädte wie eine Biene die Blumen, sammelte den Nektar diplomatischer Geheiminformationen und brachte ihn zum Stock zurück. Er glaubte fest an die Monarchie und die militärische Tradition Preußens.
Walter war nicht weniger patriotisch, vertrat jedoch die Meinung, Deutschland müsse deutlich moderner werden. Wie sein Vater war auch er stolz auf die Leistungen seines Heimatlandes in Wissenschaft und Technik und auf das hart schuftende, erfolgreiche deutsche Volk. Zugleich war er der Überzeugung, sein Land müsse noch viel lernen: Demokratie von den liberalen Amerikanern, Diplomatie von den listigen Briten und die Kunst zu leben von den stilsicheren Franzosen.
Vater und Sohn verließen die Botschaft und stiegen die breiten Stufen zur Mall hinunter. Walter sollte König George V . vorgestellt werden – ein Ritual, das als Privileg galt, obwohl es keinerlei Vorteile mit sich brachte. Junge Diplomaten wie Walter wurden normalerweise nicht so geehrt, doch Otto hatte keine Hemmungen, seine Beziehungen spielen zu lassen, um die Karriere seines Sohnes zu fördern.
»Im Vergleich zu Maschinengewehren sind alle anderen Handfeuerwaffen veraltet«, sagte Walter nun und setzte damit eine Diskussion fort, die sie früher begonnen hatten. Waffen waren sein Spezialgebiet, und er vertrat die Ansicht, das deutsche Heer müsse stets auf dem neuesten Stand der Technik sein.
Otto sah das anders. »Maschinengewehre haben Ladehemmungen, überhitzen und verfehlen viel zu oft ihr Ziel. Ein Mann mit einem Gewehr schießt genauer. Gibst du ihm ein Maschinengewehr, geht er damit um wie mit einem
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