Sturz der Titanen
verscherzte.
In seiner Wohnung angekommen, tauschten Vater und Sohn die antiquierten Kostüme gegen Tweedanzüge, Hemden mit weichem Kragen und braune Filzhüte. Zurück auf der Piccadilly, stiegen sie in einen Motoromnibus, der sie in östliche Richtung brachte.
Otto war beeindruckt gewesen, als Walter im Januar eingeladen worden war, den König in Ty Gwyn zu treffen. »Earl Fitzherbert hat gute Verbindungen«, hatte er gesagt. »Wenn die konservative Partei an die Macht kommt, wird er vielleicht Kabinettsmitglied, eines Tages womöglich sogar Außenminister. Du musst diese Freundschaft pflegen.«
Das hatte Walter auf eine Idee gebracht. »Ich sollte seiner Armenklinik einen Besuch abstatten und eine kleine Spende machen.«
»Gute Idee. Gefällt mir.«
»Vielleicht möchtest du ja mitkommen?«
Otto hatte den Köder geschluckt. »Das gefällt mir sogar noch besser.«
Walter hatte einen Hintergedanken, von dem sein Vater nichts ahnen konnte.
Der Bus fuhr an den Theatern an The Strand vorbei, an den Zeitungsredaktionen in der Fleet Street und an den Banken im Börsenviertel. Als sie dann ins Eastend gelangten, wurden die Straßen schmaler und schmutziger. Filzhüte und Melonen wichen Leinenkappen. Pferdefuhrwerke beherrschten den Verkehr. Motorwagen gab es hier nur wenige.
Sie stiegen in Aldgate aus. Otto schaute sich angewidert um. »Ich wusste gar nicht, dass du mit mir in die Slums wolltest.«
»Wir gehen zu einer Armenklinik«, erwiderte Walter. »Wo hast du denn gedacht, wo die ist?«
»Kommt Earl Fitzherbert auch schon mal hierher?«
»Ich nehme an, er beschränkt sich auf die Finanzierung.« Walter wusste genau, dass Fitz in seinem ganzen Leben noch nicht hier gewesen war. »Aber er wird natürlich von unserem Besuch erfahren.«
Sie suchten sich einen Weg durch die Nebenstraßen bis zu einer nonkonformistischen Kapelle. Auf einem handgemalten Holzschild stand zu lesen: »Calvary Gospel Hall«. Unter dem Schild hing ein Blatt Pappe mit der Aufschrift:
SÄUGLINGSKLINIKKostenlos
Heute und jeden Mittwoch
Walter öffnete die Tür, und sie traten ein.
Otto gab ein angewidertes Geräusch von sich, zog sein Taschentuch hervor und hielt es sich vor die Nase. Walter war schon einmal hier gewesen, sodass der Geruch für ihn nicht unerwartet kam; angenehmer machte es ihn aber nicht. Der Saal war voller zerlumpter Frauen und halb nackter Kinder, alle völlig verdreckt. Die Frauen saßen auf Bänken, die Kinder spielten auf dem Boden. Am anderen Ende des Raums waren zwei Türen, beide mit einem Schild. Auf dem einen stand »Arzt«, auf dem anderen »Schirmherrin«.
Neben der Eingangstür saß Fitz’ Tante Herm und schrieb Namen in ein Buch. Walter stellte ihr seinen Vater vor. »Lady Hermia Fitzherbert – mein Vater, Otto von Ulrich.«
Die Tür mit dem Schild »Arzt« ging auf, und eine zerlumpte Frau kam heraus. Sie trug ein winziges Baby auf dem Arm und hielt eine Tablettenflasche in der Hand. Eine Krankenschwester steckte den Kopf durch die Tür und sagte: »Der Nächste bitte.«
Lady Hermia schaute auf ihre Liste und rief: »Mrs. Blatsky und Rosie!«
Eine ältere Frau und ein Mädchen verschwanden im Behandlungszimmer.
Walter sagte: »Warte einen Moment, Vater. Ich hole die Chefin.«
Er eilte auf die andere Seite, wobei er den Kleinkindern auf dem Boden auswich, klopfte an die Tür, an der »Schirmherrin« stand, und trat ein.
Das Zimmer war nicht viel größer als eine Abstellkammer, und tatsächlich standen in einer Ecke Mopp und Eimer. Lady Maud Fitzherbert saß an einem kleinen Tisch und schrieb in ein Buch. Sie trug ein schlichtes taubengraues Kleid und einen Hut mit breiter Krempe. Sie hob den Blick, als die Tür geöffnet wurde. Das Lächeln, das auf ihrem Gesicht erschien, als sie Walter sah, war so strahlend, dass es ihm Tränen in die Augen trieb. Maud sprang auf und fiel ihm um den Hals.
Walter hatte sich schon den ganzen Tag darauf gefreut. Er küsste sie auf den Mund und genoss es, wie Maud sich an ihn drängte, wie er es von keiner anderen Frau kannte. Er war ein wenig verlegen und hatte Angst, sie könnte seine Erektion spüren, also drehte er sich leicht von ihr weg. Doch sie drückte sich nur umso fester an ihn, als wolle sie es spüren, und so gab Walter sich dem Vergnügen hin.
Maud war leidenschaftlich in allem, was sie tat: Kampf gegen die Armut, Einsatz für die Frauenrechte, Begeisterung für die Musik und Leidenschaft für Walter. Es erstaunte ihn immer wieder, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher