Sturz der Titanen
Kneipe, die von den Arbeitern aus den Putilow-Werken frequentiert wurde. Ein Dutzend Kollegen waren gekommen, die meisten davon Teilnehmer der bolschewistischen Diskussionsrunde über Sozialismus und Atheismus; dazu kamen noch die Mädchen aus dem Haus, in dem Grigori und Lew wohnten. Alle waren ohne Beschäftigung, denn die Hälfte der Fabriken in Sankt Petersburg wurde bestreikt. Deshalb hatte niemand Geld, aber sie legten zusammen, um sich ein Fass Bier und ein paar Heringe leisten zu können. Es war ein warmer Sommerabend, und sie machten es sich auf Bänken bequem, die neben Mischkas Kaschemme auf einem kleinen Streifen Brachland standen.
Grigori mochte solche Feiern eigentlich nicht. Lieber hätte er den Abend mit Schachspielen verbracht. Alkohol machte die Leute dumm, und den Frauen und Freundinnen anderer Männer schöne Augen zu machen war nicht Grigoris Art. Konstantin, sein Freund mit der wilden Haarmähne, der Leiter der Diskussionsgruppe, geriet wegen des Streiks mit dem angriffslustigen Isaak aneinander, dem Fußballspieler. Es dauerte nicht lange, und die beiden schrien sich nur noch an. Die dicke Warja, Konstantins Mutter, trank eine Flasche Wodka für sich allein und verprügelte ihren Mann, ehe der Fusel sie in Bewusstlosigkeit versinken ließ. Lew brachte eine ganze Schar Freunde mit – Männer, die Grigori nie gesehen hatte, und Mädchen, die er lieber nicht kennenlernen wollte. Diese Bande trank das ganze Bier, ohne einen roten Heller zu bezahlen.
Grigori verbrachte den Abend damit, traurig Katherina anzustarren. Sie war in Stimmung, denn sie liebte Feiern. Ihr langer Rock wirbelte, und ihre blauen Augen funkelten, als sie von einem zum anderen tänzelte, die Männer verulkte und die Frauen verzauberte, wobei die ganze Zeit ein Lächeln auf ihren vollen Lippen lag. Ihre Kleider mochten alt und geflickt sein, aber sie hatte einen wunderschönen Körper von der Art, wie russische Männer ihn liebten, mit üppigem Busen und breiten Hüften. Grigori hatte sich in dem Augenblick in sie verliebt, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Inzwischen waren vier Monate vergangen, und er liebte sie noch immer. Doch Katherina zog seinen Bruder vor.
Warum nur, fragte sich Grigori. Mit dem Aussehen konnte es nichts zu tun haben. Er und Lew sahen sich so ähnlich, dass die Leute sie manchmal verwechselten. Sie waren gleich groß, gleich schwer und konnten die Kleidung des jeweils anderen tragen. Aber Lew hatte Charme im Überfluss. Er war leichtlebig, selbstsüchtig und lebte am Rande des Gesetzes, aber die Frauen vergötterten ihn. Grigori hingegen war eine ehrliche Haut, ein harter Arbeiter und ernster Denker, und er war unbeweibt.
Aber in den Vereinigten Staaten würde es anders sein. Dort würde alles anders sein. Amerikanische Landbesitzer durften ihre Bauern nicht aufhängen. Die amerikanische Polizei musste die Leute erst vor Gericht stellen, bevor sie bestraft wurden; die Regierung durfte nicht einmal Sozialisten hinter Schloss und Riegel bringen. Vor allem gab es keinen Adel. In den Vereinigten Staaten waren alle gleich, sogar die Juden.
War so etwas möglich? Manchmal erschien Grigori das ferne Amerika wie ein Märchen – ähnlich den Geschichten, die man über die Südseeinseln erzählte, wo wunderschöne Mädchen ihre Körper jedem schenkten, der sie begehrte. Aber es musste etwas dran sein an dem, was man über Amerika so hörte, denn Heerscharen von Emigranten hatten überschwängliche Briefe in die alte Heimat geschrieben. Außerdem hatte eine Gruppe revolutionärer Sozialisten in den Putilow-Werken Vorträge über die amerikanische Demokratie gehalten, bis die Polizei eingeschritten war.
Grigori plagten Schuldgefühle, dass er seinen Bruder zurückließ, aber so war es am besten. »Pass auf dich auf«, sagte er gegen Ende des Abends zu Lew. »Bald bin ich nicht mehr hier, dann kann ich dich nicht mehr vor Ärger bewahren.«
»Ich komme schon zurecht«, erwiderte Lew sorglos. »Pass du lieber auf dich auf.«
»Ich werde dir Geld für die Überfahrt schicken. Bei den amerikanischen Löhnen wird’s nicht lange dauern.«
»Ich kann warten.«
»Zieh nicht um, sonst könnten wir den Kontakt verlieren.«
»Ich gehe nirgendwohin, großer Bruder.«
Sie hatten nicht darüber gesprochen, ob auch Katherina irgendwann nach Amerika kommen würde. Grigori hatte es Lew überlassen, das Thema anzusprechen, aber der hatte es nicht getan. Grigori wusste nicht, ob er hoffen oder fürchten sollte,
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