Sturz der Titanen
gibt der Dirigent einen zu schnellen Takt vor.«
Außer Walter hatte Maud nie jemanden kennengelernt, der Musik genauso ernst nahm wie sie. »Das sehe ich anders«, sagte sie. »Don Giovanni ist zwar ein ernster Stoff, aber bisweilen geht es ganz lustig zu, da können die Melodien ruhig ein bisschen flotter sein.«
»Wenn Sie meinen. Vielleicht wird es ja langsamer, wenn sich im zweiten Akt alles zum Schlechten wendet.«
»Sie scheinen in Mexiko so eine Art diplomatischen Coup gelandet zu haben«, wechselte Maud das Thema.
»Mein Vater ist …« Walter suchte nach den richtigen Worten, was eher ungewöhnlich für ihn war. »Außer sich vor Freude«, sagte er schließlich.
»Sie nicht?«
Er verzog das Gesicht. »Ich mache mir Sorgen, der amerikanische Präsident könnte es uns eines Tages heimzahlen wollen.«
In diesem Augenblick kam Fitz vorbei und sagte: »Mein lieber von Ulrich! Komm in unsere Loge. Wir haben noch einen Platz frei.«
»Mit Vergnügen«, sagte Walter.
Maud war hocherfreut. Fitz wollte nur nett sein; er wusste ja nicht, dass seine Schwester sich in Walter verliebt hatte. Bald aber würde sie Fitz auf den neuesten Stand bringen müssen. Sie war nicht sicher, wie er es aufnehmen würde. England und Deutschland waren einander nicht gerade freundlich gesinnt, und obwohl Fitz den deutschen Militärattaché als Freund betrachtete, hieß das noch lange nicht, dass er ihn als Schwager akzeptieren würde.
Maud und Walter stiegen gemeinsam die Treppe hinauf und gingen zu Fitz’ Loge. In der hinteren Reihe gab es nur zwei Sitze mit schlechter Sicht, doch Maud und Walter nahmen Platz, ohne zu murren.
Wenige Minuten später wurde das Licht gelöscht. Im Halbdunkel konnte Maud sich beinahe vorstellen, mit Walter allein zu sein. Der zweite Akt begann mit einem Duett von Don Giovanni und Leporello. Es gefiel Maud, wie Mozart den Herrn und den Knecht gemeinsam singen ließ und so die komplexen Beziehungen zwischen Ober- und Unterschicht darstellte. Viele Bühnenstücke beschäftigten sich ausschließlich mit dem Schicksal der Mächtigen; die Diener waren bloß Staffage – also genau das, als was viele Leute sie auch im wirklichen Leben gerne sehen wollten.
Bea und die Herzogin kehrten während der Arie »Ah! Taci, ingiusto core« in die Loge zurück. Den Leuten schienen die Gesprächsthemen auszugehen, denn es wurde weniger geredet und mehr zugehört. Niemand sprach mit Maud und Walter oder drehte sich auch nur zu ihnen um. Aufgeregt fragte sich Maud, ob sie die Situation nutzen sollte. Kühn streckte sie den Arm aus und nahm zärtlich Walters Hand. Er lächelte und streichelte ihre Finger mit dem Daumen. Maud wünschte, sie könnte ihn küssen, aber das wäre töricht gewesen.
Als Zelina ihre Arie »Verdrai, carino« im sentimentalen Dreiachteltakt sang, überkam Maud ein unwiderstehliches Verlangen. Als Zelina die Hand Masettos auf ihr Herz drückte, legte Maud die Hand Walters auf ihre Brust. Er schnappte unwillkürlich nach Luft, was aber niemand bemerkte, da Masetto die gleichen Geräusche von sich gab, nachdem der Don ihn gerade eben verprügelt hatte.
Maud drehte Walters Hand, sodass er die Spitzen ihrer Brüste mit der Handfläche fühlen konnte. Er liebte ihre Brüste und fasste sie an, wann immer sich die Gelegenheit bot, was selten genug der Fall war. Auch Maud hätte es gerne öfter gehabt; es gefiel ihr sehr. Das war eine weitere interessante Entdeckung: Auch andere hatten sie schon dort berührt – ein Arzt, ein anglikanischer Priester, ein älteres Mädchen in der Tanzstunde, ein Mann in einer Menschenmenge –, aber sie hatte es bis jetzt nie genossen. Nun schaute sie zu Walter: Er blickte auf die Bühne, doch auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen. Maud fragte sich, ob es falsch von ihr war, ihn so zu erregen, obwohl sie ihm keine Befriedigung verschaffen konnte; aber er machte keine Anstalten, seine Hand von ihrer wegzuziehen, also gefiel es ihm anscheinend. Und ihr gefiel es auch. Aber sie wollte mehr, wie immer.
Was hatte sie so sehr verändert? Früher war sie nicht so gewesen. Aber die Antwort war einfach: Natürlich war Walter der Grund dafür – und die Verbindung, die sie zu ihm fühlte. Es war ein so intimes, so intensives Gefühl, dass sie glaubte, ihm alles sagen und alles tun zu können, ohne irgendetwas unterdrücken zu müssen. Was machte Walter so anders als die anderen Männer, die sich zu ihr hingezogen gefühlt hatten? Ein Mann wie Lowthie – oder auch Bing
Weitere Kostenlose Bücher