Sturz der Titanen
verschmierten Wangen. Grigori verspürte das heftige Verlangen, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten.
»Was ist passiert?«, fragte er und eilte zu ihr. »Was ist los?«
»Gott sei Dank, du bist hier«, schluchzte Katherina. »Die Polizei ist hinter Lew her!«
Grigori stöhnte auf. Also steckte sein Bruder tatsächlich in Schwierigkeiten – ausgerechnet heute. »Was hat er angestellt?« Grigori verschwendete keine Gedanken daran, Lew könnte unschuldig sein.
»Gestern Nacht ist alles schiefgegangen«, begann Katherina. »Wir sollten Zigaretten von einer Barke laden.« Grigori vermutete, dass es sich um Diebesgut handelte, schwieg aber. Katherina fuhr fort: »Lew hat für die Zigaretten bezahlt. Dann aber sagte der Schiffer, das Geld reiche nicht, und es kam zum Streit. Plötzlich fiel ein Schuss. Lew hat das Feuer erwidert, und dann sind wir auch schon weggerannt …«
»Gott sei Dank seid ihr nicht verletzt!«
»Aber jetzt haben wir weder die Zigaretten noch das Geld.«
»Was für ein Schlamassel.« Grigori schaute auf die Uhr über dem Tresen. Es war Viertel nach sechs. Er hatte noch immer reichlich Zeit. »Setzen wir uns.« Er winkte Mischka und bestellte zwei Gläser Tee.
»Lew vermutet, dass einer der Verletzten mit der Polizei geredet hat«, erzählte Katherina, »und jetzt sind sie hinter ihm her.«
»Was ist mit dir?«
»Mit mir ist alles in Ordnung. Meinen Namen kennt niemand.«
Grigori nickte. »Wir müssen Lew vor den Fängen der Polizei bewahren. Am besten, er taucht ein paar Tage unter und verschwindet dann aus Sankt Petersburg.«
»Er hat aber kein Geld.«
»Das dachte ich mir.« Für die nötigsten Dinge hatte Lew nie Geld; nur für Wodka, Weiber und Wetten. »Ich werde ihm etwas geben.« Grigori würde an sein Erspartes heranmüssen, das für die Reise gedacht war, aber was sollte man machen? »Wo steckt er jetzt?«
»Er hat gesagt, er will sich mit dir am Schiff treffen.«
Mischka brachte den Tee. Grigori hatte Hunger – er hatte den Brei auf dem Herd stehen lassen – und bestellte sich eine Suppe.
»Wie viel kannst du Lew geben?«, fragte Katherina.
Sie schaute Grigori ernst an. Wie jedes Mal hatte er dabei das Gefühl, alles für sie tun zu müssen, egal was sie von ihm wollte. »Ich gebe ihm, so viel er braucht.«
»Du bist ein guter Mensch.«
Grigori zuckte mit den Schultern. »Lew ist mein Bruder.«
»Danke.«
Es gefiel Grigori, wenn Katherina ihm dankbar war; zugleich machte es ihn verlegen. Die Suppe wurde gebracht. Grigori aß, dankbar für die Ablenkung. Katherina beobachtete ihn und nippte an ihrem Tee. Der gehetzte Blick war aus ihren Augen verschwunden.
Bald kehrte Grigoris Optimismus zurück. Dass Lew in Schwierigkeiten steckte, war nichts Neues, und er war jedes Mal ungeschoren davongekommen. Diesmal würde es nicht anders sein. Wahrscheinlich war er inzwischen am Kai, wartete in den Schatten eines Auslegers und behielt misstrauisch jeden vorbeikommenden Polizisten im Auge.
Grigori aß seine Suppe und schaute auf die Uhr. Es war fast sieben. Die Zeit wurde knapp. »Ich muss gehen«, sagte er widerwillig.
Katherina begleitete ihn zur Tür. »Sei nicht zu streng mit Lew«, bat sie.
»War ich das je?«
Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Viel Glück.«
Grigori machte sich auf den Weg und eilte durch die Straßen im Südwesten Sankt Petersburgs, ein Industriegebiet mit Lagerhäusern, Fabriken und überbevölkerten Armenvierteln. Grigori hielt sich auf der schattigen Straßenseite und mied jede freie Fläche Er hatte sich wieder die Kappe in die Stirn gezogen und den Kopf gesenkt: Falls Pinsky eine Personenbeschreibung Lews herausgegeben hatte, bestand die Gefahr, dass ein wachsamer Polizist ihn mit Lew verwechselte und festnahm.
Doch Grigori erreichte die Docks, ohne entdeckt zu werden. Sein Schiff, die Erzengel Gabriel , war ein verrosteter Kahn, der sowohl Fracht als auch Passagiere beförderte. Gerade eben wurde er mit vernagelten Frachtkisten aus Holz beladen, auf denen der Name des größten Pelzhändlers der Stadt stand. Grigori schaute zu, wie die letzte Kiste im Laderaum verschwand und die Mannschaft die Luke schloss.
Am Landungssteg zeigte eine jüdische Familie ihre Fahrscheine vor. Alle Juden wollten nach Amerika; das hatte Grigori schon oft gehört. Tatsächlich hatten sie sogar noch mehr Grund als er, Russland zu verlassen, denn hier gab es Gesetze, die
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