Sturz der Titanen
konnte man ihr nicht unterstellen. Deshalb wunderte es Grigori nicht, dass Pinsky und Koslow gar nicht der Gedanke gekommen war, die Rückseite des Hauses zu überwachen. Vielleicht wussten sie, dass man über die Gleise musste, wenn man den Hof verlassen wollte; für einen Verzweifelten jedoch stellte eine Bahnstrecke kein Hindernis dar.
Grigori hörte Rufe und Schreie von den Mädchen nebenan. Offenbar waren Pinsky und Koslow zuerst zu ihnen gegangen.
Er klopfte sein Jackett ab: Fahrschein, Papiere und sein Geld steckten in den Taschen, und der Rest seiner Habseligkeiten befand sich in dem kleinen Pappkoffer.
Grigori schnappte sich den Koffer und beugte sich aus dem Fenster, so weit es nur ging. Dann ließ er den Koffer in die Tiefe fallen. Er schlug dumpf auf, blieb jedoch unbeschädigt.
Die Tür zu Grigoris Zimmer flog auf.
Grigori schob die Beine zum Fenster hinaus. Eine Sekunde lang saß er auf der Fensterbank; dann sprang er auf das Dach des Waschhauses, glitt auf den Schindeln aus und landete hart auf dem Hintern. Er rutschte das Dach hinunter bis zur Regenrinne. Hinter sich hörte er einen wütenden Schrei, schaute aber nicht zurück. Beherzt sprang er vom Dach und landete unverletzt im Hof.
Dort schnappte er sich seinen Koffer und rannte los.
Ein Schuss peitschte. Grigori rannte schneller. Die meisten Polizisten trafen nicht einmal den Winterpalast aus drei Schritten Entfernung, aber selbst ein blindes Huhn fand mal ein Korn. Grigori eilte den Bahndamm hinauf, wobei er sich bewusst war, dass er in diesen Sekunden ein besseres Ziel für Schüsse aus dem Fenster abgab. Er hörte das vertraute Rattern einer Lokomotive und schaute nach rechts. Ein Güterzug näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Wieder peitschte ein Schuss. Grigori bemerkte den Einschlag der Kugel, spürte aber keinen Schmerz; deshalb nahm er an, dass sein Koffer getroffen worden war. Dann erreichte er die Gleise. Seine Silhouette hob sich nun deutlich vor dem Morgenhimmel ab. Der Zug war nur noch wenige Meter entfernt. Der Lokführer betätigte das Horn in dem Moment, als ein dritter Schuss abgefeuert wurde. Nur knapp vor dem Zug warf Grigori sich auf die andere Seite der Gleise.
Die Lokomotive donnerte mit einem ohrenbetäubenden Heulen an ihm vorbei. Stahl ratterte auf Stahl, und Dampf erfüllte die Luft, während das Horn sich immer weiter entfernte. Grigori rappelte sich auf. Nun war er durch eine lange Kette von Kohlenwaggons vor weiteren Kugeln geschützt. Er lief über die restlichen Gleise. Als der letzte Kohlenwaggon vorbeigerattert war, stieg Grigori den Bahndamm auf der anderen Seite hinunter, rannte über den Hof einer kleinen Fabrik und gelangte auf die Straße.
Er blickte auf seinen Koffer. Tatsächlich, da war ein Einschussloch. Grigori überlief es eiskalt bei dem Gedanken, wie knapp die Kugel ihn verfehlt haben musste.
Mit schnellen Schritten ging er weiter und versuchte dabei, zu Atem zu kommen. Nun, da er für den Augenblick sicher war, stieg wieder die Sorge um seinen Bruder in ihm auf. Er musste wissen, ob Lew in Schwierigkeiten steckte.
Grigori beschloss, dorthin zu gehen, wo er Lew zum letzten Mal gesehen hatte: Mischkas Wirtshaus.
Von Unruhe erfüllt, machte er sich auf den Weg. Dabei hatte er die ganze Zeit das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Unmöglich war das nicht; vielleicht durchstreifte Pinsky die Straßen. Grigori zog die Kappe tiefer ins Gesicht, auch wenn er nicht wirklich glaubte, seine Identität auf diese Weise verbergen zu können. Er kam an ein paar Arbeitern vorbei, die zu den Docks unterwegs waren, und schloss sich ihnen an. Doch der Koffer in Grigoris Hand ließ auf den ersten Blick erkennen, dass er nicht zu ihnen gehörte.
Trotzdem erreichte er Mischkas Wirtshaus ohne Zwischenfälle. Die Kneipe war mit selbst gezimmerten Bänken und Tischen möbliert. Es roch nach Tabakrauch und schalem Bier von letzter Nacht. Morgens servierte Mischka Brot und Tee für Leute, die sich zu Hause kein Frühstück machen konnten, doch wegen des Streiks gab es nicht viel zu tun; die Schankstube war fast leer.
Grigori wollte sich bei Mischka erkundigen, ob er wisse, wohin Lew gegangen sei, doch ehe er die Frage stellen konnte, entdeckte er Katherina. Sie sah aus, als wäre sie die ganze Nacht auf gewesen. Ihre blauen Augen waren blutunterlaufen, ihr blondes Haar zerzaust, ihr Rock zerknittert und fleckig. Sie war völlig aufgelöst. Ihre Hände zitterten, und Tränen liefen ihr über die
Weitere Kostenlose Bücher