Sturz der Titanen
dass Lew das Mädchen mitbrachte.
Lew nahm Katherinas Arm und sagte: »Wir müssen jetzt gehen.«
Grigori war überrascht. »Wo wollt ihr um diese Zeit noch hin?«
»Ich treffe mich mit Trofim.«
Trofim war ein rangniederes Mitglied der Wjalow-Familie. »Warum musst du denn mitten in der Nacht zu ihm?«
Lew zwinkerte. »Mach dir keine Sorgen. Vor morgen früh sind wir zurück. Dann bleibt noch genug Zeit, dich zur Gutujewski-Insel zu begleiten.« Dort legten die transatlantischen Dampfschiffe an.
»Na gut«, sagte Grigori. »Aber mach keine Dummheiten«, fügte er hinzu, wohl wissend, dass es sinnlos war.
Lew winkte ihm fröhlich zu und verschwand.
Es ging auf Mitternacht zu, als auch Grigori sich verabschiedete. Ein paar seiner Freunde weinten, aber er vermochte nicht zu sagen, ob Trauer der Grund dafür war oder der Alkohol. In Begleitung einiger Mädchen ging er zum Haus zurück, und alle küssten ihn im Flur. Dann verschwand er auf sein Zimmer.
Sein gebrauchter Pappkoffer stand auf dem Tisch – ein kleiner Koffer, und trotzdem halb leer. Grigori nahm seine Hemden, seine Unterwäsche und sein Schachbrett mit. Stiefel hatte er nur zwei Paar. In den neun Jahren, die seit dem Tod Maminkas vergangen waren, hatte sich nicht allzu viel angesammelt.
Bevor Grigori zu Bett ging, schaute er noch einmal in den Schrank, wo Lew seinen Revolver aufbewahrte, einen belgischen Nagant M1895. Zu seinem Entsetzen war die Waffe nicht an ihrem gewohnten Platz.
Grigori entriegelte das Fenster, damit er nicht aufstehen musste, wenn Lew nach Hause kam.
Wach lag er auf seinem Bett, lauschte dem vertrauten Donnern der vorbeirasenden Züge und fragte sich, wie es viertausend Meilen von hier entfernt wohl sein würde. Er hatte sein ganzes bisheriges Leben mit Lew verbracht, war Vater und Mutter zugleich für ihn gewesen. Von morgen an würde er nicht mehr wissen, wann Lew mit einer Waffe in der Tasche die ganze Nacht fortblieb. Würde das eine Erleichterung sein, oder würde er sich noch mehr Sorgen machen?
Wie immer erwachte Grigori um fünf Uhr. Sein Schiff legte um acht Uhr ab, und bis zur Anlegestelle war es eine Stunde zu Fuß. Er hatte also noch genügend Zeit.
Lew war nicht nach Hause gekommen.
Grigori wusch sich Hände und Gesicht. Er schaute in den gesplitterten Spiegel und stutzte sich den Bart mit einer Küchenschere. Dann zog er seinen besten Anzug an. Den anderen Anzug würde er für Lew hierlassen.
Grigori wärmte gerade einen Topf Brei auf, als er ein lautes Klopfen an der Haustür vernahm.
Das konnte nur schlechte Nachrichten bedeuten, denn nur Behördenvertreter hämmerten so rücksichtslos gegen die Tür. Grigori setzte seine Mütze auf, trat hinaus auf den Flur und schaute die Treppe hinunter. Die Hauswirtin ließ soeben zwei Männer in den schwarz-grünen Uniformen der Polizei herein. Grigori schaute genauer hin, erkannte das Mondgesicht von Michail Pinsky und den kleinen Rattenkopf seines Kumpanen Ilja Koslow.
Grigoris Gedanken überschlugen sich. Offenbar wurde irgendjemand im Haus eines Verbrechens verdächtigt, und der wahrscheinlichste Kandidat dafür war Lew. Aber egal, ob es sich um Lew oder einen anderen Hausbewohner handelte, niemandem im Haus würde ein Verhör erspart blieben. Und dabei, das wusste Grigori, würden die beiden Polizisten sich an den Vorfall im Februar erinnern, als er Katherina vor ihnen gerettet hatte, und sie würden die Gelegenheit nutzen und ihn verhaften.
Und Grigori würde sein Schiff verpassen.
Dieser schreckliche Gedanke lähmte ihn. Das Schiff verpassen! Nach all der langen Zeit, da er auf diesen Tag gespart und gewartet hatte. Nein, dachte er. Nein, das lass ich nicht zu!
Er duckte sich in sein Zimmer zurück, als Pinsky und Koslow die Treppe hinaufkamen. Es wäre sinnlos, sie anzubetteln, ihn gehen zu lassen. Das würde eher das Gegenteil bewirken. Wenn Pinsky herausfand, dass Grigori auswandern wollte, würde es ihm umso mehr Freude bereiten, ihn einzusperren. Dann würde Grigori nicht einmal die Möglichkeit bekommen, seinen Fahrschein zurückzugeben und das Geld zurückzuverlangen. All die Jahre des Sparens wären umsonst gewesen.
Er musste fliehen.
Hastig ließ Grigori den Blick durch das kleine Zimmer schweifen. Es hatte eine Tür und ein Fenster. Grigori musste auf dem Weg hinaus, auf dem Lew nachts hereinkam. Er schaute hinaus. Der Hof war menschenleer. Die Polizei von Sankt Petersburg war berüchtigt wegen ihrer Rücksichtslosigkeit; Klugheit hingegen
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