Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
ihnen Landbesitz verweigerten; auch durften sie nicht im Staatsdienst arbeiten oder als Offiziere in der Armee dienen. Sogar die Zahl der Juden, die eine Universität besuchen durften, war beschränkt. Es grenzte an ein Wunder, dass sie sich überhaupt ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Und ging es ihnen trotz aller Erschwernisse doch einmal besser, dauerte es nicht lange, und der Mob stürzte sich auf sie, meist aufgehetzt von Polizisten wie Pinsky. Sie wurden zusammengeschlagen, ihre Familien in Todesangst versetzt, ihr Hab und Gut in Brand gesteckt. Trotzdem blieben einige Juden Russland treu.
    Das Schiffshorn rief »alle Mann an Bord«.
    Vergeblich hielt Grigori nach Lew Ausschau. Was war jetzt wieder schiefgegangen? Hatte Lew seinen Plan geändert? Oder war er bereits verhaftet worden?
    Ein kleiner Junge zupfte Grigori am Ärmel. »Da is’ ein Mann, der will mit dir sprechen«, sagte der Kleine.
    »Was für ein Mann?«
    »Er sieht aus wie du.«
    Gott sei Dank, dachte Grigori. »Wo ist er?«
    »Hinter den Balken da.«
    Am Kai türmte sich ein Bretterstapel. Grigori lief um den Stapel herum und entdeckte Lew, der auf dem Boden saß und nervös eine Zigarette rauchte. Er war zittrig und bleich – ein seltener Anblick, denn normalerweise brachte ihn so schnell nichts aus der Ruhe.
    »Ich bin in Schwierigkeiten«, sagte er.
    »Schon wieder?«
    »Diese Schiffer sind verdammte Lügner!«
    »Und Diebe noch dazu, nehme ich an.«
    »Spar dir deinen Spott. Wir haben keine Zeit.«
    »Da hast du recht. Wir müssen dich aus der Stadt schaffen, bis die Wogen sich ein wenig geglättet haben.«
    Lew schüttelte den Kopf und blies dabei den Rauch aus der Nase. »Einer der Schiffer ist tot. Man sucht mich wegen Mordes.«
    »Verdammt!« Grigori setzte sich auf einen Balken und vergrub das Gesicht in den Händen. »Mord?«, sagte er.
    »Trofim wurde schwer verletzt. Die Polizei hat ihn gefasst und zum Reden gebracht. Er hat mich verpfiffen.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich habe Fjodor vor einer halben Stunde gesehen.« Fjodor war ein korrupter Polizist aus Lews Bekanntenkreis.
    Grigori stöhnte auf. »Das ist übel.«
    »Es kommt noch schlimmer. Pinsky hat geschworen, mich zu schnappen – als Rache an dir.«
    Grigori nickte. »Das hatte ich befürchtet.«
    »Was soll ich jetzt tun?«
    »Du musst nach Moskau. Hier wirst du für längere Zeit nicht mehr sicher sein – vielleicht nie mehr.«
    »Ich weiß nicht, ob Moskau weit genug weg ist. Die Polizei hat Telegrafen.«
    »Du hast recht.«
    Wieder dröhnte das Schiffshorn. Nicht mehr lange, und das Schiff würde ablegen. »Wir haben nur noch eine Minute«, drängte Grigori. »Was willst du tun?«
    »Ich könnte nach Amerika gehen«, antwortete Lew.
    Grigori starrte ihn an.
    »Du könntest mir deinen Fahrschein geben«, sagte Lew.
    Grigori wollte nicht einmal darüber nachdenken, aber Lew fuhr mit gnadenloser Logik fort: »Ich könnte deinen Pass und deine Einreisepapiere nehmen. Niemand würde den Unterschied bemerken.«
    Grigori sah seinen Traum platzen. Es war wie das Ende einer Filmvorführung im Cinema Soleil am Newski-Prospekt, wenn das Licht aufflammte und die schmutzige, triste Wirklichkeit den schönen Schein verdrängte. »Ich soll dir meinen Schiffsfahrschein geben …«, wiederholte Grigori in dem verzweifelten Versuch, die Entscheidung hinauszuschieben.
    »Du würdest mir das Leben retten«, sagte Lew.
    Grigori wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Diese Einsicht zerriss ihm schier das Herz.
    Er zog die Papiere aus der Tasche seines besten Anzugs und reichte sie Lew. Dann gab er ihm alles Geld, das er für die Reise gespart hatte, und den Pappkoffer mit dem Einschussloch.
    »Ich werde dir Fahrgeld schicken«, sagte Lew. Grigori erwiderte nichts darauf, doch seine Skepsis war ihm offenbar anzusehen, denn Lew sagte mit beleidigtem Unterton: »Ehrlich. Ich schwör’s. Ich werde sparen.«
    »Jaja«, murmelte Grigori.
    Sie umarmten einander. »Du hast dich immer um mich gekümmert«, sagte Lew.
    »Jaja.«
    Lew drehte sich um und rannte zum Schiff.
    Die Seeleute machten bereits die Leinen los. Sie wollten gerade die Zugangsbrücke einholen, doch Lew rief ihnen zu, und sie warteten noch ein paar Sekunden.
    Er rannte aufs Deck.
    Dort drehte er sich um, lehnte sich an die Reling und winkte Grigori.
    Grigori brachte es nicht über sich, das Winken zu erwidern. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.
    Das Schiffshorn ertönte ein letztes Mal, doch Grigori schaute

Weitere Kostenlose Bücher