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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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niemand Russisch. Lew war nicht sicher, welcher Nationalität die Seeleute waren, aber er drang weder mit seinen paar Brocken Englisch noch mit seinem holperigen Deutsch zu ihnen durch. Irgendjemand sagte, es seien Holländer. Lew hatte noch nie von Holländern gehört.
    Trotzdem war die Stimmung unter den Reisenden von Optimismus geprägt. Auch Lew fühlte sich, als hätte er die Mauern eines zaristischen Gefängnisses durchbrochen und wäre nun frei und auf dem Weg nach Amerika, wo es keine Aristokraten gab. War die See ruhig, saßen die Passagiere an Deck und erzählten sich Geschichten, die sie über Amerika gehört hatten – dass dort heißes Wasser aus den Hähnen komme, dass selbst Arbeiter gute Lederstiefel trügen und dass man die Freiheit habe, sich jeder Religion und jeder politischen Gruppierung anzuschließen. In Amerika, hieß es, dürfe man freiheraus seine Meinung sagen, ohne sich vor der Polizei fürchten zu müssen.
    Am Abend des zehnten Tages spielte Lew Karten. Er war der Geber, aber er verlor. Tatsächlich verloren alle bis auf Spirja, einen unschuldig dreinblickenden jungen Burschen in Lews Alter, der ebenfalls allein unterwegs war. »Spirja gewinnt jeden Abend«, sagte Jakow, ein anderer Spieler. Die Wahrheit war: Spirja gewann nur, wenn Lew gab.
    Langsam dampften sie durch eine Nebelbank. Die See war ruhig; bis auf das Stampfen der Maschinen war kein Laut zu hören. Lew hatte nicht herausfinden können, wann sie in Amerika ankommen würden. Jeder, den er fragte, antwortete etwas anderes. Einige sagten, es hinge vom Wetter ab, und aus der Mannschaft war nichts herauszubekommen.
    Bei Einbruch der Dunkelheit warf Lew seine Karten hin. »Ich bin pleite«, verkündete er. Dabei hatte er in Wahrheit noch wesentlich mehr in seinem Hemd versteckt; aber er sah, dass den anderen allmählich das Geld ausging – mit Ausnahme von Spirja. »Das war’s«, sagte er. »Sobald wir in Amerika sind, werde ich mir eine reiche alte Schachtel anlachen und wie ein Schoßhund in ihrem Marmorpalast leben.«
    »Warum sollte dich jemand als Schoßhund haben wollen, Grigori?«, sagte Jakow lachend. Lew benutzte die Papiere seines Bruders; deshalb hatte er sich allen als Grigori vorgestellt.
    »Ältere Damen frieren nachts«, antwortete Lew. »Da können sie mein Feuer gut gebrauchen.«
    Das Spiel endete in guter Stimmung, und die Spieler verstreuten sich.
    Spirja ging nach achtern, lehnte sich an die Reling und beobachtete, wie das Kielwasser im Nebel verschwand. Lew gesellte sich zu ihm. »Ich bekomme genau sieben Rubel von dir«, sagte er.
    Spirja zog das Papiergeld aus der Tasche und gab Lew seinen Anteil. Dabei stellte er sich so, dass niemand etwas sehen konnte. Lew ließ die Scheine verschwinden und stopfte seine Pfeife.
    »Was würdest du eigentlich tun, würde ich deinen Anteil nicht rausrücken?«, fragte Spirja.
    Bedächtig steckte Lew Tabak und Pfeife weg. Dann packte er Spirja blitzschnell am Kragen und stieß ihn gegen die Reling, wo unter ihm die Wellen tosten. Spirja war größer als Lew, aber bei Weitem nicht so hart und zäh. »Dann würde ich dir deinen schmutzigen Hals umdrehen«, spie Lew hervor, »und dir alles Geld abnehmen, das du sowieso mir zu verdanken hast!« Er drückte Spirja noch ein Stück weiter über die Reling. »Und dann würde ich dich ins Meer werfen, du Stück Dreck!«
    Entsetzt riss Spirja die Augen auf. »Ist ja gut!«, sagte er. »Lass mich!«
    Lew ließ ihn los.
    »Himmel!«, stieß Spirja hervor. »Ich habe dir doch nur eine Frage gestellt.«
    Lew holte seine Pfeife wieder hervor und zündete sie an. »Und ich habe dir nur eine Antwort gegeben«, sagte er. »Merk sie dir gut.«
    Spirja ging davon.
    Als der Nebel sich hob, kam Land in Sicht. Es war Nacht, doch Lew erblickte die Lichter einer Stadt. Wo waren sie? Einige sagten in Kanada, andere in Irland, doch genau wusste es keiner.
    Die Lichter kamen näher, und das Schiff wurde langsamer. Offenbar würden sie anlanden. Lew hörte jemanden sagen, dass sie in Amerika seien. Zehn Tage kamen Lew zwar ein wenig schnell vor, aber was wusste er schon? Den Pappkoffer seines Bruders in der Hand, stand er an der Reling, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. Der Koffer erinnerte ihn daran, dass Grigori an seiner Stelle hätte sein sollen. Aber Lew hatte seinen Schwur nicht vergessen, seinem Bruder das Geld für die Überfahrt zu schicken. Diesen Schwur wollte er einlösen. Grigori hatte ihm wahrscheinlich das Leben gerettet –

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