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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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nicht zurück.
    Ohne das Gewicht des Koffers fühlte sein rechter Arm sich seltsam leicht an. Er ging den Kai hinunter und schaute auf das schwarze Wasser. Ganz kurz kam ihm der Gedanke, dass er sich hineinstürzen könnte und … Er schüttelte sich. Solch dummen Gedanken wollte er gar nicht erst nachhängen. Trotzdem war er verbittert. Das Leben meinte es nie gut mit ihm. Nie!
    Grigori bekam den Kopf einfach nicht frei, als er denselben Weg zurückging, den er gekommen war. Den Blick gesenkt, schlenderte er durch das Industriegebiet. Er machte sich nicht einmal die Mühe, nach der Polizei Ausschau zu halten. Wenn sie ihn jetzt verhafteten … na und? Das machte auch nichts mehr aus.
    Was sollte er tun? Grigori fühlte sich, als wäre ihm alle Kraft abhandengekommen. Wenn der Streik vorbei war, würden sie ihm seine Stelle bei den Putilow-Werken zurückgeben; er war ein tüchtiger Arbeiter, das wussten alle. Grigori spielte mit dem Gedanken, in der Fabrik vorbeizuschauen. Vielleicht gab es Fortschritte. Dann aber verzichtete er darauf. Was spielte das alles für eine Rolle?
    Nach einer Stunde näherte Grigori sich Mischkas Wirtshaus. Zuerst wollte er vorbeigehen, doch als er einen Blick durchs Fenster warf, sah er Katherina, die noch immer dort saß, wo er sie vor zwei Stunden zurückgelassen hatte, ein Glas Tee vor sich.
    Er musste ihr sagen, was geschehen war.
    Grigori betrat die Kneipe. Bis auf Mischka, der den Boden wischte, war der Schankraum leer.
    Katherina stand auf. Sie sah verängstigt aus. »Was machst du denn hier?«, fragte sie. »Hast du dein Schiff verpasst?«
    »Eigentlich nicht.« Grigori wusste nicht, wie er ihr beibringen sollte, was geschehen war.
    »Was dann?«, hakte sie nach. »Ist Lew etwas passiert?«
    »Nein. Aber er wird wegen Mordes gesucht.«
    Katherina starrte ihn an. »Wo ist er?«
    »Er musste fort.«
    »Wohin?«
    Es gab keine Möglichkeit, es ihr schonend beizubringen. »Er hat mich gebeten, ihm meinen Schiffsfahrschein zu geben.«
    »Deinen Fahrschein?«
    »Und meinen Pass. Lew ist unterwegs nach Amerika.«
    »Nein!«, schrie Katherina.
    Grigori nickte nur.
    »Nein!«, rief sie noch einmal. »Er würde mich niemals verlassen! Sag so was nicht! Sag es ja nicht!«
    »Du musst dich beruhigen …«
    Katherina schlug ihn ins Gesicht. Doch sie war nur eine schwache Frau; Grigori zuckte nicht einmal zusammen. »Du Schwein!«, rief sie. »Du hast ihn weggeschickt!«
    »Um ihm das Leben zu retten.«
    »Bastard! Hund! Ich hasse dich! Ich hasse dein dummes Gesicht!«
    »Sag, was du willst. Schlimmer kann es für mich sowieso nicht kommen.« Grigori verließ die Kneipe. Augenblicklich verstummten Katherinas Flüche.
    Kaum war er zur Tür hinaus, hörte er schnelle Schritte auf der Straße hinter sich. »Warte!«, rief Katherina. »Bitte, Grigori, geh nicht. Es tut mir leid.«
    Er drehte sich um.
    »Grigori, du musst dich um mich kümmern … jetzt, wo Lew fort ist.«
    Er schüttelte den Kopf. »Du brauchst mich nicht. Die Männer werden Schlange stehen, sich um dich kümmern zu dürfen.«
    »Nein, das werden sie nicht«, erwiderte Katherina. »Ich muss dir etwas sagen.«
    Was denn jetzt noch, dachte Grigori.
    »Lew wollte nicht, dass ich es dir sage.«
    »Was?«
    »Ich erwarte ein Kind«, sagte Katherina und brach in Tränen aus.
    Grigori stand da wie vom Donner gerührt. Er musste erst einmal verdauen, was er gehört hatte. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass das Kind von Lew war. Und Lew wusste, dass er Vater wurde, auch da gab es keine Zweifel. Trotzdem war er nach Amerika gefahren.
    »Ein Kind«, sagte Grigori.
    Katherina nickte.
    Das Kind seines Bruders. Sein Neffe oder seine Nichte. Seine Familie.
    Grigori legte den Arm um Katherinas Schultern und zog sie an sich. Sie bebte am ganzen Körper und vergrub schluchzend das Gesicht in seiner Jacke. Grigori streichelte ihr übers Haar. »Schon gut«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen. Dir wird nichts geschehen. Und deinem Kind auch nicht.« Er seufzte. »Ich kümmere mich um euch beide.«

    Eine Fahrt auf der Erzengel Gabriel war kein Zuckerschlecken, auch nicht für einen Jungen aus den Elendsvierteln von Sankt Petersburg. Es gab nur eine Klasse, das Zwischendeck, und die Passagiere wurden wie Frachtstücke behandelt. Das Schiff war verdreckt und unhygienisch, besonders bei starkem Seegang, wenn die Leute sich übergeben mussten. Zugleich war es völlig unmöglich, um Abhilfe zu bitten oder sich zu beschweren, denn von der Mannschaft sprach

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