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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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bringen.«
    »Was ist denn so Aufregendes passiert?«
    »Ach, Nachrichten aus dem Ausland«, antwortete Nina und winkte ab. »Ein Attentat in einem Ort, der Sarajevo heißt. Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich wurde ermordet. Die Fürstin ist schrecklich aufgeregt.«
    »Als Fürstin muss man da wohl Angst haben.«
    »Bestimmt«, sagte Nina. »Aber für uns kleine Leute wird es wahrscheinlich keine Rolle spielen.«
    »Ja«, sagte Lew. »Das stimmt wohl.«

Kapitel 7
    Anfang Juli 1914
    Die St.-James-Kirche an der Piccadilly hatte die am besten gekleidete Gemeinde der Welt. Die Kirche war das Lieblingsgotteshaus der Elite von London. Theoretisch war Prahlerei nicht gern gesehen, aber eine Frau musste einen Hut tragen, und heutzutage bekam man keinen Hut mehr ohne Straußenfedern, Schleifen und Seidenblumen. Vom hinteren Teil des Kirchenschiffs aus schaute Walter von Ulrich über einen Dschungel extravaganter Formen und Farben hinweg. Im Gegensatz zu den Damen sahen die Herren in ihren schwarzen Mänteln, den weißen Stehkragen und den Zylindern auf dem Schoß alle gleich aus.
    Die meisten dieser Leute begreifen gar nicht, was vor sieben Tagen in Sarajevo geschehen ist, dachte Walter säuerlich. Einige von ihnen wussten nicht einmal, wo Bosnien lag. Das Attentat auf den Erzherzog hatte sie schockiert, aber sie hatten keine Vorstellung, was dieser Mord für den Rest der Welt bedeutete. Sie waren bloß ein bisschen verwirrt.
    Nicht so Walter: Er kannte die möglichen Konsequenzen des Attentats nur zu genau. Es hatte eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands heraufbeschworen – und es waren Leute wie er, die ihr Land in diesem Augenblick der Gefahr beschützen und verteidigen mussten.
    Heute bestand seine erste Aufgabe darin herauszufinden, was der russische Zar dachte. Das wollte jeder wissen: der deutsche Botschafter, Walters Vater, der Außenminister in Berlin und auch der Kaiser persönlich.
    Walter, als guter Nachrichtendienstler, hatte bereits eine Informationsquelle.
    Er ließ den Blick über die Menge schweifen und versuchte, seinen Mann anhand des Hinterkopfs zu identifizieren. Hoffentlich war er da. Anton war Beamter in der russischen Botschaft. Er und Walter trafen sich in anglikanischen Kirchen, weil Anton hier sicher sein konnte, niemandem aus seiner Botschaft über den Weg zu laufen. Wer in den diplomatischen Dienst wollte, musste der orthodoxen Kirche angehören.
    Anton leitete das Telegrafenbüro in der russischen Botschaft; deshalb bekam er jedes hereinkommende und hinausgehende Telegramm zu sehen. Seine Informationen waren unbezahlbar. Aber der Mann war nicht einfach im Umgang und hatte Walter schon manches Kopfzerbrechen bereitet. Spionage machte Anton Angst, und wenn er Angst hatte, kam er nicht – also meistens bei internationalen Spannungen wie jetzt, wenn Walter ihn am dringendsten brauchte.
    Walter wurde abgelenkt, als er Maud entdeckte. Er erkannte sie an ihrem langen, schön geschwungenen Hals, der aus einem modischen Flügelkragen ragte. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Diesen Hals küsste er, wann immer er Gelegenheit dazu bekam.
    Wenn er an die Kriegsgefahr dachte, galt sein erster Gedanke Maud, nicht seinem Vaterland. Walter schämte sich für seine Selbstsucht, konnte aber nichts dagegen tun: Seine größte Angst war, dass Maud ihm genommen werden könnte. Die Bedrohung für sein Vaterland kam erst an zweiter Stelle. Er war bereit, für Deutschland zu sterben; aber er war nicht bereit, ohne die Frau zu leben, die er liebte.
    In der dritten Reihe von hinten drehte sich ein Kopf, und Walter schaute Anton in die Augen. Der Mann hatte schütteres braunes Haar und einen ungleichmäßigen Bart. Erleichtert ging Walter ins südliche Seitenschiff, als suche er nach einem Platz, und setzte sich nach kurzem Zögern.
    Anton war aus Hass und Bitterkeit zum Spion geworden. Vor fünf Jahren hatte die Geheimpolizei des Zaren einen seiner Neffen revolutionärer Umtriebe beschuldigt; der Junge war in der Peter-und-Paul-Festung festgesetzt worden, auf der anderen Seite des Flusses, gegenüber vom Winterpalast in Sankt Petersburg. Er war Theologiestudent gewesen und vollkommen unschuldig; aber bevor er entlassen werden konnte, hatte ihn eine Lungenentzündung erwischt, an der er gestorben war. Von da an hatte Anton dem zaristischen Regime tödliche Rache geschworen.
    Es war bedauerlich, dass die Kirche so gut ausgeleuchtet war. Der Architekt, Christopher Wren, hatte lange Reihen

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