Sturz der Titanen
großer Rundbogenfenster bauen lassen, doch für die Art von Arbeit, der Walter sich widmete, wäre düsteres gotisches Zwielicht besser gewesen. Trotzdem hatte Anton seine Position gut gewählt. Er saß am Ende einer Reihe, neben sich ein Kind, hinter sich eine Holzsäule.
»Guter Sitzplatz«, murmelte Walter ihm zu.
»Man kann uns noch immer von der Galerie aus beobachten«, murrte Anton.
Walter schüttelte den Kopf. »Dort schauen alle nach vorne.«
Anton war ein Junggeselle mittleren Alters, klein und übertrieben ordentlich: Seine Krawatte war straff gebunden, die Knöpfe perfekt ausgerichtet, die Schuhe blank geputzt. Sein alter Anzug schimmerte vom jahrelangen Waschen. Walter nahm an, dass dieser Sauberkeitsfimmel eine Reaktion auf das schmutzige Geschäft der Spionage war. Immerhin war der Mann hier, um sein Land zu verraten.
Und ich bin hier, um ihn dabei zu ermutigen, dachte Walter düster.
Während der Gebete schwieg Walter, doch kaum ertönte die erste Hymne, fragte er: »Wie ist die Stimmung in Sankt Petersburg?«
»Russland will keinen Krieg«, antwortete Anton.
»Gut.«
»Der Zar hat Angst, dass ein Krieg zur Revolution führt.« Als Anton den Zaren erwähnte, sah er aus, als hätte er eine Kröte verschluckt. »Halb Sankt Petersburg ist bereits im Streik. Aber der Zar kommt natürlich nicht auf den Gedanken, dass auch seine eigene Dummheit und Grausamkeit zu einer Revolution führen könnten.«
»Jaja.« Walter musste sich immer wieder vor Augen führen, dass Antons Meinungen von Hass verzerrt waren, aber in diesem Fall irrte er sich nicht. Walter hasste den Zaren nicht, aber er fürchtete ihn. Der Zar verfügte über die größte Armee der Welt. Bei jeder Diskussion über Deutschlands Sicherheit musste man diese Armee mit einbeziehen. Deutschland war mit einem Mann zu vergleichen, dessen Nachbar einen riesigen Bären im Vorgarten angekettet hatte. »Was wird der Zar tun?«
»Das hängt von Österreich ab.«
Walter verkniff sich eine direkte Erwiderung. Alle warteten darauf, was der österreichische Kaiser tun würde. Und irgendetwas musste er tun, denn der ermordete Erzherzog war sein Thronfolger gewesen. Walter hoffte, von seinem Vetter Robert heute mehr über die österreichischen Absichten zu erfahren, denn Roberts Zweig der Familie war katholisch, wie der größte Teil der österreichischen Elite. Im Augenblick besuchte Robert wahrscheinlich die Messe in der Westminster Cathedral, doch zum Mittagessen würde Walter ihn sehen. Bis dahin musste er mehr über die Russen erfahren.
Walter wartete auf das nächste fromme Lied und versuchte, sich in Geduld zu üben. Müßig hob er den Blick und betrachtete die exquisite Vergoldung des Kuppeldachs.
Endlich stimmte die Gemeinde das nächste Lied an. »Nehmen wir an, es kommt zu Kämpfen auf dem Balkan«, sagte Walter zu Anton. »Werden die Russen sich heraushalten?«
»Nein. Der Zar kann nicht einfach zusehen, wenn Serbien angegriffen wird.«
Walter lief es eiskalt über den Rücken. Das war genau die Art von Eskalation, vor der er sich fürchtete. »Es wäre Wahnsinn, wegen so etwas einen Krieg vom Zaun zu brechen!«
»Das stimmt. Aber die Russen können Österreich nicht den Balkan überlassen. Sie müssen ihre Handelswege am Schwarzen Meer schützen.«
Dagegen konnte man nichts sagen. Der Großteil der russischen Exporte – Getreide aus der Ukraine und Öl aus den Quellen um Baku – wurde über die Schwarzmeerhäfen in alle Welt verschifft.
Anton fuhr fort: »Andererseits ermahnt der Zar jeden zur Umsicht.«
»Kurz gesagt, er kann sich nicht entscheiden.«
»Sofern er überhaupt des Denkens fähig ist.«
Walter nickte. Der Zar war nicht gerade für seine Klugheit berühmt. Sein Traum war, Russland in das goldene 17. Jahrhundert zurückzuführen, und er war dumm genug zu glauben, dass so etwas tatsächlich möglich wäre. Aber genauso gut hätte König George V . versuchen können, England in die Zeit Robin Hoods zurückzuversetzen.
Während der letzten Hymne schweifte Walters Blick zu Maud, die zwei Reihen vor ihm auf der anderen Seite saß. Liebevoll betrachtete er ihr Profil, während sie aus vollem Halse sang.
Dann aber rief er sich zur Ordnung: Antons Bericht war nicht dazu angetan, lustvollen Gedanken nachzuhängen. Walter machte sich noch größere Sorgen als eine Stunde zuvor. »Von nun an«, sagte er, »müssen wir uns jeden Tag treffen.«
Anton starrte ihn entsetzt an. »Das ist unmöglich«, sagte er. »Das ist zu
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