Sturz der Titanen
Familie gemocht und respektiert hatte.
Sie gaben ihre Zylinder an der Garderobe ab und gingen gemeinsam in den Speisesaal. Walter hatte stets das Bedürfnis verspürt, Robert zu beschützen. Schon in ihrer Kindheit hatte er gewusst, dass sein Vetter anders war. Die Leute nannten solche Männer »weibisch«, aber das war zu grob vereinfachend, denn Robert war keineswegs eine Frau im Körper eines Mannes. Allerdings hatte er eine Reihe weiblicher Eigenschaften, weshalb Walter ihn stets mit einem Hauch von Ritterlichkeit behandelte.
Robert ähnelte Walter stark. Beide hatten dieselben gleichmäßigen Gesichtszüge und blaue Augen, doch Roberts Haar war länger und sein Schnurrbart gewachst und gezwirbelt. »Wie stehen die Dinge mit Lady M?«, fragte er, als sie sich setzten. Robert wusste alles über die verbotene Liebe seines Vetters, denn Walter hatte sich ihm anvertraut.
»Sie ist wunderbar«, antwortete Walter. »Aber mein Vater kommt einfach nicht darüber hinweg, dass sie mit einem jüdischen Arzt in einer Armenklinik arbeitet.«
»Hm, das ist hart«, sagte Robert. »Seine Vorbehalte wären ja noch verständlich, wenn sie selbst Jüdin wäre …«
»Ich hatte gehofft, dass er mit ihr warm wird, wenn er sie hin und wieder bei gesellschaftlichen Ereignissen trifft und feststellt, dass sie die mächtigsten Männer des Landes zu ihren Freunden zählt, aber es klappt nicht.«
»Unglücklicherweise wird die Balkankrise die Spannungen in den …« Robert lächelte. »Entschuldige … den internationalen Beziehungen weiter verschärfen.«
Walter zwang sich zu einem Lachen. »Wir werden schon eine Lösung finden, egal was passiert.«
Robert schwieg, erweckte jedoch den Eindruck, als wäre er sich da nicht so sicher.
Bei walisischem Lamm und Kartoffeln mit Petersiliensoße gab Walter seinem Vetter die uneindeutigen Informationen weiter, die er von Anton bekommen hatte.
Robert hatte ebenfalls Neuigkeiten. »Wir haben herausgefunden, dass die Attentäter ihre Waffen und Bomben aus Serbien bekommen haben.«
»Verdammt«, sagte Walter.
Robert machte keinen Hehl aus seiner Wut. »Der Chef des serbischen Nachrichtendienstes persönlich hat sie zur Verfügung gestellt, und die Mörder haben in einem Park in Belgrad Schießen geübt.«
Walter sagte: »Nachrichtendienstler handeln manchmal eigenmächtig.«
»Oft. Und der geheime Charakter ihrer Arbeit hat zur Folge, dass sie häufig damit durchkommen.«
»Das beweist also nicht, dass die serbische Regierung hinter dem Anschlag steckt«, sagte Walter. »Und wenn man nüchtern darüber nachdenkt, wird deutlich, dass es für eine kleine, auf ihre Unabhängigkeit bedachte Nation wie Serbien Wahnsinn wäre, einen mächtigen Nachbarn zu provozieren.«
»Es ist sogar möglich, dass der serbische Nachrichtendienst gegen den ausdrücklichen Befehl der Regierung gehandelt hat«, räumte Robert ein, fügte dann aber entschlossen hinzu: »Aber das spielt letztlich keine Rolle. Österreich muss Maßnahmen gegen Serbien ergreifen.«
Genau das war Walters Befürchtung: Die Affäre konnte nicht länger als Verbrechen betrachtet werden, um das sich Polizei und Gerichte kümmerten. Die Situation war eskaliert, und nun musste ein Imperium eine kleine Nation bestrafen. Der österreichische Kaiser Franz Josef war zu seiner Zeit ein großer Mann gewesen, konservativ und fromm, aber ein starker Führer seines Volkes. Mittlerweile war er vierundachtzig Jahre alt, und zu seiner autoritären Art gesellte sich Sturheit. Männer wie er glaubten alles zu wissen, nur weil sie alt waren. Walters Vater war genauso.
Mein Schicksal liegt in den Händen zweier Monarchen, dachte Walter, des russischen Zaren und des österreichischen Kaisers. Der eine ist dumm, der andere senil; trotzdem beherrschen sie mein und Mauds Schicksal und das von Millionen anderer Menschen in Europa. Was für ein Argument gegen die Monarchie!
Während des Essens dachte er angestrengt nach. Als der Kaffee serviert wurde, sagte er optimistisch: »Ich nehme an, ihr wollt Serbien eine Lektion erteilen, ohne dass sich ein anderes Land einmischt.«
Robert machte Walters Hoffnung sofort zunichte. »Im Gegenteil«, sagte er. »Mein Kaiser hat einen persönlichen Brief an deinen Kaiser geschrieben.«
Walter war erstaunt. Davon hatte er noch gar nichts gehört. »Wann?«
»Der Brief ist gestern übergeben worden.«
Wie alle Diplomaten hasste auch Walter es, wenn Monarchen direkt miteinander sprachen statt über ihre Minister. In
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