Sturz in den Tod (German Edition)
schmutzig. »Kennen Sie
eigentlich viele Leute hier im Haus?«
Schönfeld schüttelte den Kopf. »Nein, nur so vom ›Guten Morgen‹ und
›Schönen Abend‹ im Fahrstuhl. War ja immer selten hier.«
»Kennen Sie eine Frau Bergmann?«
»Nein, wohnt die auch hier?«
Nina nickte. »Über dreißig Jahre.«
Schönfeld kaute. »Der Name sagt mir nichts. Aber ab jetzt werde ich
ja öfter hier sein.«
Er stand mitten im Raum und schaute sich in seinem Apartment um, als
sähe er es zum ersten Mal. »Fast vierzig Jahre habe ich das hier schon. Wo ist
bloß die Zeit geblieben? Vielleicht sollte ich mir auf meine alten Tage noch
ein Boot zulegen. Der Golfklub soll auch gar nicht so schlecht sein. Irgendwie
muss ich die Leere füllen. Grüß deine Mutter von mir. Ich rufe an, wenn ich
euch brauche.«
Nina nickte. Schönfeld gab ihr zum Abschied die Leberwursthand.
***
Nach der Begegnung mit ihrer Mutter war
Romy so erschöpft, dass sie sofort das Columbia Hotel verließ und im nahe
gelegenen Strandschlösschen ein Zimmer buchte.
Am nächsten Morgen saß sie übermüdet am
Frühstückstisch im Wintergarten des kleinen Hotels. Sie versuchte etwas zu
essen, doch sie kaute nur mit den vorderen Zähnen, trank eine Tasse Kaffee nach
der anderen und ging immer wieder zum Rauchen vor die gläserne Tür.
Sie hatte kaum geschlafen. In den letzten Wochen
hatte Romy oft von ihrer Mutter geträumt, von einer gesichtslosen Mutter. Alles,
was man vergessen will, schreit im Traum um Hilfe, hatte sie
mal irgendwo gelesen. Romy wollte endlich wieder ruhig schlafen. Vielleicht
würde sie es nach dem heutigen Treffen können.
Es war erst acht Uhr. Romy fragte sich, wie sie
die Zeit bis zum Treffen mit ihrer Mutter herumbringen sollte.
Sie war der erste Gast, der so früh im
Strandschlösschen frühstückte. Die nette Kellnerin fragte schon zum zweiten
Mal, ob alles in Ordnung sei. Romy bejahte und spürte, dass die Kellnerin gern
einen Small Talk mit ihr führen wollte, doch Romy stand nicht der Sinn danach,
übers Wetter zu reden.
Sie sah durch die große Scheibe des Wintergartens
übers Meer. Bilderbuchwolken hingen überm Horizont. Ansonsten war der Himmel
blau. Das Rauschen des Meeres war durch die offene Tür zu hören. Salzige Luft
wehte herein. Romy wurde plötzlich bewusst, wie grau und staubig Berlin war.
Als die Kellnerin zum dritten Mal auf sie
zusteuerte, stand Romy abrupt auf und verließ das Restaurant. Auf der Promenade
war es windiger, als sie angenommen hatte. Ihre langen brünetten Haare wehten
in alle Richtungen.
Noch fast drei Stunden, überlegte Romy, noch fast
drei Stunden bis zum Treffen mit ihrer Mutter.
Der Strandkorbverleih hatte noch nicht geöffnet.
Zwei ältere Damen schlossen ihre offenbar für längere Zeit angemieteten Körbe
auf und holten Klappstühle und Badetücher hervor. Die eine Frau befestigte Kleiderbügel
am Strandkorb, auf die sie dann sorgfältig ihre Oberbekleidung hängte, bevor
sie sich ihr Badekleid aus Frottee überzog. Die andere drapierte eine
Thermoskanne und einen Krimi auf dem ausklappbaren Tischchen des Strandkorbes
und ließ sich mit einem erleichterten Stöhnen hineinsinken.
Romy ging direkt am Ufer auf dem schmalen
Streifen angespülter kleiner Steine entlang und hielt unwillkürlich Ausschau
nach Muscheln, doch es waren keine zu finden. Nur ein paar dicke Quallen waren
über Nacht ans Ufer gespült worden.
Romy hatte Lust, ihre Schuhe auszuziehen,
wenigstens an den Füßen das Meer zu spüren, doch sie ließ es bleiben, denn sie
hatte kein Handtuch und keine Sachen zum Wechseln dabei und wollte so schön wie
möglich zum Treffen mit ihrer Mutter erscheinen. Immer wieder sah sie auf die
Uhr. Die Zeit verging nur langsam. Romy wusste nicht, ob sie froh darüber sein
sollte. Zwei kleine Jungen kamen ans Wasser gerannt. Der eine stoppte beim
Anblick der angeschwemmten Quallen und schrie vor Ekel auf. Der andere nahm das
zum Anlass, mit beiden Händen eine große Qualle zu greifen und nach seinem vor
Angst weglaufenden Bruder zu werfen.
Romy erinnerte sich, dass sie mit vierzehn Jahren
das erste Mal in ihrem Leben am Meer gewesen war. Eine neue Leiterin hatte Ende
der siebziger Jahre das Heim übernommen, vieles versucht zu verändern und unter
anderem für mehrere Mädchengruppen ein Wochenende in einem Zeltlager
organisiert. Romy war damals in die Wellen hineingelaufen, ohne daran zu
denken, dass sie nicht schwimmen konnte. Sie war untergetaucht und vor Schreck
aus dem
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