Sturz in den Tod (German Edition)
Wasser aufgesprungen, weil es so salzig schmeckte. Die Strömung hatte
sie minutenlang keinen Boden unter den Füßen finden lassen. Es wurde der
Sommer, in dem sie schwimmen lernte.
So wie jetzt der kleine Junge hatte Romy sich mit
ihrer Freundin Nadja den Spaß gemacht, anderen Mädchen Quallen auf die nackten
Rücken zu klatschen. Romy und Nadja waren beste Freundinnen gewesen, solange
sie im Heim gewesen waren. Sie hatten jedes Geheimnis geteilt und so viel wie
möglich gelacht. Es waren noch ein paar andere Mädchen dabei gewesen, mit denen
sie zusammenhielten. Sie konnten sich ein Leben ohne einander nicht vorstellen.
Als das Heim um 1980 herum aufgelöst wurde, versprachen sie sich, in Kontakt zu
bleiben. Doch alle gingen ihrer Wege, und keine suchte den Kontakt zur anderen.
Romy hatte alles vernichtet, was sie aus dem Heim mitgenommen hatte – auch
das Foto von Nadja und sich und die Kontaktdaten, die sie von ihr zum Abschied
bekommen hatte. Jahre später war sie Nadja zufällig in Berlin auf dem Ku’damm
begegnet. Beide Frauen hatten sich auf Anhieb wiedererkannt und den Blick dann
abgewandt. Nichts sollte sie mehr an ihr Dasein im Heim erinnern, an ihr Leben
unter den barmherzigen Schwestern. Als hätte es das nicht gegeben.
Es war Romy lange gelungen, so zu leben, als
hätte diese Kindheit nicht stattgefunden. Niemandem hatte sie davon erzählt.
Wenn überhaupt mal jemand nach ihren Eltern fragte, dann sagte sie, diese
würden leider in einem Pflegeheim wohnen, für das sie finanziell mit aufkäme,
was ihr in der jeweiligen Kneipe, in der sie gerade jobbte, oft mehr Trinkgeld
einbrachte. Sie hatte bis vor Kurzem keine Ahnung gehabt, dass es ihrer Mutter
gelungen war, ein Leben im Wohlstand zu führen, nachdem sie Romy in dieses Heim
abgeschoben hatte. Oder weil sie Romy in dieses Heim
abgeschoben hatte.
Dass sie eine reiche Mutter hatte, war etwas
Unfassbares für Romy. Eine Mutter, die eine hanseatische Dame geworden war,
obwohl sie im Rendezvous gearbeitet hatte. Wie viel Glück muss man haben oder
wie wenig Skrupel, dachte Romy. Sie sah zum Turm, dem Maritim, in dem ihre
Mutter jetzt vielleicht gerade die Augen öffnete, aufstand und begann, sich für
das Treffen mit ihr anzukleiden. Hatte ihre Mutter nach der gestrigen Begegnung
im Casino des Columbia gut schlafen können, fragte sich Romy. Sie befürchtete
es.
***
Nina wartete auf dem dicken Teppich vor den Fahrstühlen.
Als sich eine der Türen öffnete, stand Jan darin. Er stellte sich in die offene
Tür, damit sie sich nicht schloss.
»Ich habe versucht dich zu erreichen! Weshalb gehst du nicht ans
Telefon?«
»Ich habe zu tun«, sagte Nina.
Jan trat auf den Flur. Der Fahrstuhl schloss sich hinter ihm und
fuhr mit ratterndem Geräusch nach unten.
»Ich bin dein Freund. Ich helfe dir. Aber du musst dich an Regeln
halten, sonst bekommen wir noch mehr Ärger.«
»Ich bekomme den Ärger, ich, nicht du. Ich werde jetzt da hochgehen
und in Frau Bergmanns Wohnung nachsehen, ob es irgendeinen Hinweis gibt,
weshalb jemand ihr das angetan hat.«
Nina drückte auf den Fahrstuhlknopf nach oben. Jan legte Nina die
Hand auf den Arm.
»Du kannst nicht in die Wohnung von Frau Bergmann gehen, sie wird
von der Polizei versiegelt worden sein!«
»Ist mir egal«, sagte Nina und starrte stoisch auf die Anzeige des
Fahrstuhls. Endlich öffnete sich eine der drei Türen mit einem »ding, ding«.
Jan stieg mit ein. Nina sah während der kurzen Fahrt auf den Boden, um nicht
Jans Blick in der Spiegelwand zu begegnen. Sie holte Frau Bergmanns Schlüssel
hervor, stieg aus und ging entschlossen auf das Apartment zu. Jan folgte ihr.
»Nina!«
Das Siegel an der Tür war beschädigt.
Nina und Jan sahen sich fragend an. Nina steckte den Schlüssel ins
Schloss. Jan legte seine Hand auf ihren Unterarm, um sie zurückzuhalten. Nina
sah ihm fest in die Augen. Schließlich nickte er. Nina öffnete leise die Tür.
Ein Mann stand im Wohnzimmer und fuhr herum.
»Was wollen Sie hier?«
Nina hatte darauf keine Antwort.
»Dasselbe könnten wir Sie fragen«, sagte Jan und griff zum Handy.
»Die Wohnung war versiegelt. Ich werde jetzt die Polizei rufen.«
Der Mann kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Nein,
warten Sie! Ich bin der Sohn von Frau Bergmann! Alexander Bergmann.«
Nina sah mit Verblüffung, dass Jan diese Hand drückte.
»Jan Andresen«, stellte Jan sich vor. »Rechtsanwalt. Und das ist
meine Kollegin, Frau Wagner. Ich muss Ihnen sagen, dass
Weitere Kostenlose Bücher