Sturz in den Tod (German Edition)
Festland nach
Travemünde und wirbelte den Sand am Strand auf. Auf der Promenade wurden die
ersten Buden für die Travemünder Woche aufgebaut. Handwerker verlegten
meterweise Bretter für eine Tanzfläche vor einer großen Bühne. In Lübeck schien
es bereits zu regnen. Nina und Jan beeilten sich, ins wenige Meter entfernte
Maritim zu kommen, um in der Night-Sailor-Bar, statt in der im Freien liegenden
Strandoase, einen Absacker zu trinken. Hier konnte man in Ruhe reden, die Bar
war selten gut besucht. Heute allerdings war es voll, zum Glück fanden sie noch
einen Tisch am Fenster. Ein DJ legte Howard
Carpendale auf. Die Gäste waren sämtlich um die sechzig und unterhielten sich
angeregt. Vielleicht eine Gruppe, die ein Arrangement im Maritim gebucht hatte
und mit dem Bus angereist war.
Regen schlug gegen die Fensterscheiben. Nina nahm die Halskrause ab
und legte sie neben sich auf die Fensterbank. Jan bestellte bei der Bardame,
die den ganzen Laden allein schmiss, zwei Prosecco Aperol und fragte bei der
Gelegenheit, ob heute noch etwas Besonderes geplant sei.
»Wir haben einen Superstar zu Gast«, antwortete die Bardame
verheißungsvoll, als müssten Jan und Nina wissen, wen sie meinte, und wandte
sich dem Nachbartisch zu.
Der DJ legte »Money, Money« von ABBA auf.
Nina nahm den Strohhalm aus ihrem Glas und trank einen Schluck. »Ich
finde, dass die Polizei die Spur der Frau, mit der Pasquale Schöne zusammen
war, verfolgen sollte.«
»Wozu? Pasquale Schöne hat alles gestanden.«
»Aber man hat kein Geld, keinen Schmuck, man hat nichts bei ihm
gefunden. Nicht einmal das Auto ist mehr da.«
»Er hat ausgesagt, alles verjubelt zu haben.«
»Ich glaube das nicht! Alexander Bergmann und seine Frau wollen
übrigens versuchen, ihr Erbe von Pasquale Schöne einzuklagen.«
»Irgendein Anwalt wird ihnen vielleicht falsche Hoffnungen gemacht
haben und gut daran verdienen.«
»Du würdest die Sache nicht übernehmen?«, fragte Nina.
Jan schüttelte den Kopf. »Frau Bergmann hat zu Lebzeiten alles
verschenkt. Das durfte sie. Da kann man nichts einklagen.«
Regentropfen liefen die Scheiben herab und hinterließen eine Spur im
Meersalz, das darauf lag.
»Und? Wird dein Vater die Wohnungen für die Bergmanns verkaufen?«,
fragte Nina.
Jan antwortete nicht.
Eine große beleuchtete Fähre, gefolgt von einem kleinen Lotsenboot,
fuhr die Trave hinauf Richtung Meer.
»Weißt du, was komisch ist?«, fragte Nina, ohne eine Antwort
abzuwarten. »Manchmal denke ich, er ist gar nicht tot. Manchmal denke ich, mein
Vater lebt noch. Er könnte zum Beispiel hier unter den Gästen sitzen, und ich
würde ihn nicht erkennen. Oder erkennt man seinen Vater immer wieder, auch wenn
man ein kleines Kind war, als man ihn das letzte Mal gesehen hat?«
»Ich dachte, er wäre mit seinem Boot gekentert und ertrunken«, sagte
Jan.
»Man hat ihn nie gefunden. Mein Vater könnte irgendwo leben, ohne
dass ich es weiß. Vielleicht wollte er einfach ein neues Leben beginnen«, fügte
sie hinzu. »Ohne meine Mutter. Und ohne mich.«
Jan dachte an die eigentümlichen Blicke und Andeutungen, die seine
Eltern vor Jahren gemacht hatten, als Jan mit Nina befreundet war. Er hatte
sich nicht weiter darum gekümmert. Auch für Nina war damals ihr Vater nie ein
Thema gewesen. Weshalb fing sie jetzt damit an?
Der DJ drehte die Musik ab. Der Superstar
marschierte ein.
»Vielleicht sollte ich nach ihm suchen. Nach meinem Vater«, sagte
Nina.
Der DJ legte mit seiner Anmoderation los.
Er freue sich, Roger Lantini, der vor ein paar Jahren im Finale der Sendung
»Supersänger« gewesen sei, ankündigen zu dürfen.
Jetzt wussten Jan und Nina, was die Barfrau gemeint hatte – die
erfolgreiche Sendung eines Privatsenders, die Jahr für Jahr, Staffel für
Staffel lief.
Der stark sonnenbankgebräunte und geschminkte Roger Lantini begrüßte
das Publikum, gab dem DJ das Zeichen für Halbplayback und
sang einen italienischen Evergreen nach dem anderen. Das Publikum, das seit
zwanzig Uhr auf ihn gewartet und in dieser Zeit diverse Drinks zu sich genommen
hatte, unterhielt sich auch während der Show angeregt, jetzt umso lauter, damit
man sich bei dem Gesang noch verstand. Der Agent des Supersängers stand an der
Bar und sah auf die Uhr, als müssten sein Künstler und er gleich noch weiter,
in die nächste Bar.
Roger Lantini schwenkte die Hüften, dabei wehten die silberfarbenen
Ketten, die an den Schulterpolstern seines roten Jacketts befestigt waren.
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