Sturz in die Vergangenheit
Gewicht auf sich. Ilya, dieser zutrauliche kleine Racker, hatte es sich auf seinem Bauch bequem gemacht. Ein Gefühl von Dankbarkeit durchflutete ihn. Ilya war Elias so ähnlich. Nicht identisch, aber sehr, sehr ähnlich. Matthias hätte nicht sagen können, worin die Unterschiede bestanden. Vielleicht spielte ihm auch nur die Erinnerung einen Streich. Immerhin war die mehr als fünf Jahre alt.
Mila schlief noch auf der ihm abgewandten Seite, hatte wie zum Schutz ihre Schürze fest um sich geschlungen. Doch allein die Kurve ihres Körpers, der Verlauf von Schulter, Taille, Hüfte reichte, um altbekannte, sehr vertraute Gefühle in Matthias zu wecken. Mila sah genauso aus wie Lida. Etwas jünger vielleicht, aber ansonsten, als wären sie ein und dieselbe Person.
Behutsam hob er Ilya von sich herunter, legte ihn eng an Milas Rücken, was die mit einem zufriedenen Seufzer quittierte. Mehrere lange Sekunden musste er bewegungslos liegen bleiben, bis der Drang, die Linie ihres Nackens zu berühren, abgeebbt war.
Das Feuer brannte noch immer. Mila musste während der Nacht also nachgelegt haben, vielleicht sogar mehrmals.
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, kroch er aus der Mulde, um die Flammen herum, richtete sich dann auf und ging ein paar Schritte, bis er hinab ins Tal sehen konnte.
Eine ganze Weile genoss er die atemberaubende Darbietung, die ihm das stärker werdende Tageslicht bot: Während der Heiterwanger See im Tal lediglich durch den über ihm liegenden Dunst schimmerte, war der Blick auf die schroffen Felsen der Zingersteinspitze und des Plattbergs völlig frei. Kurz darauf tauchten rechts von Matthias die Gipfel von Jochplatz, Achseljoch und Alpkopf aus dem Morgendunst. Noch ein paar Minuten, und er würde die Zugspitze im Hintergrund bewundern können.
Der beginnende Tag verhieß erneut Sonne und Hitze. Matthias würde also gut daran tun, nach einer Quelle oder einem Bach zu suchen. Um seinen Durst zu löschen, sich ein wenig zu erfrischen, um seiner Kopfschmerzen Herr zu werden und selbstverständlich, damit Mila und Ilya nach dem Aufwachen trinken könnten.
Mila hatte sehr recht damit gehabt, darauf zu bestehen, den Abstieg zum See bei Tageslicht zu machen. Matthias wusste, dass es diesen Weg in der Zukunft auch noch geben würde, selbst erwandert hatte er ihn allerdings noch nie. Aber er hatte davon reden hören. In der Zukunft würde der Pfad hier, nicht viel anders als jetzt auch, überwiegend aus reinem Geröll bestehen. Aus kleinen Steinen, die sich in Bewegung setzten, sobald sie Druck und Schwung durch ausschreitende Füße bekamen. Es benötigte einiges an Übung und Geschick, sich von ihnen nicht wegreißen zu lassen. Hatte man den Kniff einmal heraus, konnte man auf dem in Bewegung geratenen Geröll geradewegs nach unten ‚schwimmen’. Dadurch verlor der Abstieg deutlich an Anstrengung.
Mila, die Ilya im Tragetuch auf dem Rücken trug, lenkte sich mittels zweier Stöcke geschickt über die rollenden Steine, fast, als stünde sie auf Skiern. Dabei war sie barfuß!
Matthias in seinen zum Glück noch immer völlig verdreckten Turnschuhen, die inzwischen bis zur endgültigen Unkenntlichkeit mit Staub bedeckt waren, konnte nicht anders, als sie zu bewundern. Sie musste zentimeterdicke Hornhaut an den Fußsohlen haben.
Er als geübter Skifahrer hatte die Technik ebenfalls schnell erfasst. Unter Zuhilfenahme seiner Stöcke schwang er sich immer wieder seitlich aus den in zu schnelle Bewegung geratenen Steinchen heraus, um nicht von ihnen in die Tiefe mitgerissen zu werden.
So kamen sie gut voran, brauchten nur eine Pause, in der Ilya auf einer hübsch gewellten Wiese herumsprang.
'Bumen bücken', hatte er angekündigt und war hurtig daran gegangen, den dort blühenden roten und gelben Blumen die Köpfe abzureißen und Mila in den Schoß zu schmeißen.
Matthias, der sich ins warme Gras zurückgelegt hatte, genoss mit geschlossenen Augen die Geräusche ringsum. Insektengebrumm, Grasgeraschel, Vogelgezwitscher, Ilyas kleine Kommentare, seine flüchtigen Berührungen, wenn er in der Nähe war, sein helles Lachen, Milas Lächeln. Das er irgendwie hören konnte, das war wirklich so.
Schließlich machten sie sich wieder auf den Weg.
„Da drüben.“ Kurz darauf wies Mila auf den Wald zu ihrer Rechten. „Mitten drin liegt eine versteckte Lichtung. Dort lebt meine Tante.“
Sie verließen das Schotterfeld und kämpften sich seitlich über Stock und Stein in den Wald hinein.
„Von unten
Weitere Kostenlose Bücher