Sturz in die Zeit: Roman (German Edition)
Brauchst du denn wirklich mehr Geld? Außerdem hast du doch schon mein Portemonnaie gesehen. Alles darin stammt aus der Zukunft.«
»Stimmt, hab ich vergessen.« Sie nahm mein Portemonnaie aus dem Gras und stöberte erneut darin herum. Ich verfolgte jede ihrer Bewegungen und versuchte, sie mir einzuprägen, während ich darauf wartete, dass sie wieder verschwand. »Du nimmst das alles wirklich ziemlich gefasst auf.«
»Vielleicht stehe ich unter Schock«, sagte sie, nahm meinen Führerschein und hielt ihn sich dicht vor die Augen. »Wow, du bist also jetzt neunzehn? Wie sehe ich denn aus? Bitte sag mir, dass meine Brüste noch ein bisschen größer werden.«
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. Sag’s ihr nicht. Noch besser: Denk gar nicht daran. Sie ist jetzt hier. Konzentriere dich darauf. Meine Hände zitterten, aber ich versuchte, keine Miene zu verziehen.
Nach einer langen Stille schaute sie zu mir hoch. »Was ist denn? Ich bin fett, stimmt’s?«
Ich zwang mich zu lächeln und wich ihrem Blick aus. »Du siehst schön aus und bist kein bisschen dick.«
»Du bist mein Bruder, du musst das sagen.«
»Kann schon sein, aber es stimmt trotzdem.«
»Erzähl mir irgendwas über die Zukunft, irgendwas echt Cooles.« Sie sah mich erwartungsvoll an, wie eine Klatschkolumnistin auf der Suche nach einem Skandal.
Ich wusste genau, was sie hören wollte. »Ich hab eine Freundin.«
Wie ich vorhergesehen hatte, merkte sie sofort auf. »Wie heißt sie?«
»Holly«, sagte ich und lehnte meinen Kopf an den Baumstamm. Es fühlte sich an, als würde mir die Luft wegbleiben, als ich ihren Namen zum ersten Mal aussprach, seit ich sie verlassen hatte. Aber ich wusste, dass dieses Thema Courtney davon ablenken würde, nach sich selbst zu fragen. Ich musste meine Rolle spielen, auch wenn es weh tat.
»Wie sieht sie aus?«
»Blond und absolut umwerfend. Blaue Augen.«
»Ja, mit einem blonden Model-Typ kann ich mir dich supergut vorstellen. Wahrscheinlich arbeitet sie in Paris und hat eine Riesenkarriere vor sich.«
Ich lachte. »Sie ist aus Jersey und ein bisschen zu klein zum Modeln, außerdem trägt sie nie Make-up.«
Courtney grinste. »Ich mag sie jetzt schon.«
»Ich auch.« Ich legte meine Arme um sie und drückte ihre Schultern. Diesmal protestierte sie nicht.
»Jackson?«
»Ja?«
»Ich muss dir ein Geheimnis verraten.« Sie drückte ihr Gesicht in mein Hemd. »Ich hab letzte Woche auf Peytons Party Stewart Collins geküsst.«
»Ich wusste es! Ihr zwei wart viel zu lange in der Küche verschwunden, und dann hatte er so ein dümmliches Grinsen im Gesicht. Ich hätte ihm eine reinhauen können.«
Sie kicherte. »Und genau deshalb hab ich es dir nicht erzählt.«
Meine Arme legten sich enger um sie. »Ich vermisse dich so.«
So etwas hätte ich im Jahr 2004 niemals gesagt, aber in der Realität war es vier Jahr her, dass ich mit meiner Schwester gesprochen hatte. Die Trauer überwältigte mich. Ich musste verschwinden. Das war zu heftig. Zu viel. Nichts würde sich ändern.
Ich drückte sie ein letztes Mal und flüsterte: »Auf Wiedersehen, Courtney.«
Dann verließ ich das Jahr 2004 und reiste zurück zu meiner eigenen Version des Fegefeuers. Zum 9. September 2007. Mal wieder.
10
Ich schlug die Augen auf und sah drei Tropfen Blut ins Waschbecken fallen. Jemand schob mir ein Papiertuch unter die Nase. Das Nasenbluten war ein weiteres Indiz dafür, dass dies, genau dieser Augenblick, meine neue Gegenwart war. Meine neue Homebase.
Aber irgendetwas war anders. Vor meinem Sprung war ich allein in der Herrentoilette gewesen. Mithilfe von Adams Formel hätte ich genau ausrechnen können, wie lange ich an dieser Wand gelehnt und wie scheintot gewirkt hatte. Leider kannte ich sie nicht.
»Hier, bitte sehr. Du solltest dir die Nasenlöcher zuhalten«, sagte eine tiefe Stimme direkt in mein Ohr.
Neben mir stand ein großer Dunkelhäutiger mit Glatze.
»Danke«, antwortete ich, und einen Moment lang schaute er mich an, als würde er mich von irgendwo her kennen. Aber in meinem Kopf herrschte ein riesiges Durcheinander, und bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, war er schon verschwunden.
Mein Nasenbluten hörte schon nach einer Minute wieder auf, und nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, verließ ich den Toilettenraum.
Die Kellnerin brachte meinen Kaffee. Dieselbe Kellnerin, die mich begrüßt hatte, bevor ich zur Toilette ging. Verdammt. Wieder derselbe Ort. Und dieselbe Zeit.
Sie
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