Sturz in die Zeit: Roman (German Edition)
eine jüngere Version meiner Schwester im Zoo herumwandern zu sehen. Aber wir waren nie auch nur annähernd auf eine konkrete Theorie gekommen, geschweige denn auf eine Schlussfolgerung. Immerhin hatten wir einen ziemlich ausgetüftelten Plan geschmiedet, meine Patientenakte zu stehlen. Aber weil ich im Jahr 2007 gelandet war, war der nie umgesetzt worden. Allerdings wollten wir meine Akte klauen und nicht die von meiner Mutter. Courtney und ich hatten unsere Mutter nie gekannt. Sie war ein paar Tage nach unserer Geburt an Komplikationen gestorben, die im Kreißsaal aufgetreten waren. Dad wollte nicht über sie reden, und nachdem ich sieben oder acht geworden war, hatte ich aufgehört, Fragen zu stellen. Es fällt schwer, sich nach einer Mutter zu sehnen, wenn man nie eine gehabt hat. Ich kannte es nicht anders.
Ich blieb stehen, und Courtney wandte sich mir zu. »Du glaubst, es liegt an Mom?«, fragte ich.
Selbst wenn ich ihre Akten einsehen wollte, wo sollte ich denn danach suchen? Sie war schon so lange tot. Außerdem kommt man an Patientenakten nicht eben leicht heran.
Courtney zuckte mit den Schultern. »Das könnte der Grund sein, warum Dr. Melvin immer diese Kopf-Scans mit uns macht.«
Ich wusste nicht, ob es Courtneys Erklärung war oder einfach Schlaf- oder Nahrungsmangel, aber mir wurde plötzlich ganz schwindlig, und ich fühlte mich sogar noch leichter als einige Stunden davor. »Ich muss mich mal setzen.«
Sie zog mich an der Hand zu einer Bank hin. »Du bist total blass. Alles in Ordnung mit dir?«
In meinem Nacken bildeten sich Schweißperlen und liefen mir am T-Shirt herunter. »Ich bin einfach nur … müde.«
Ich legte mich auf die Bank und schloss die Augen. Courtney wischte mir mit der Hand den kalten Schweiß von der Stirn. Ich musste ins Jahr 2007 zurückreisen, bevor ich am Ende ohnmächtig wurde oder Schlimmeres passierte, was eine medizinische Behandlung erforderlich machte. Das würde dann interessant werden. Wo zur Hölle blieb eigentlich der Spion? Diese ganze Reise war sinnlos, wenn ich ihn nicht zu Gesicht bekam.
Ich schlug die Augen auf und legte eine Hand an ihre Wange. »Ich glaube, ich sollte bald wieder los, okay?«
Ihr standen Tränen in den Augen. »Ich werde mich an das hier nicht erinnern, stimmt’s? Und wenn du ins Jahr 2007 zurückgehst, erinnert diese Version von mir sich auch nicht daran?«
Mir schnürte sich die Kehle zu, und ich musste mich total zusammenreißen, um nicht zu heulen, als ich die letzten Worte herauspresste: »Ich glaube nicht.«
Sie nickte. »Das ist irgendwie wie Tagträumen, oder?«
»Ja, genau. Wie das, was du tust, wenn du die reale Welt ausschließen willst.« Ich erhob mich ganz langsam wieder, und sie legte mir ihre Arme um die Taille. »Ich liebe dich, Courtney.«
»Ich liebe dich auch, auch wenn ich es dir nie sage«, flüsterte sie.
Ich spürte, wie ich die Rückreise antrat, aber diesmal nicht aus freiem Willen. In der einen Sekunde war sie noch in meinen Armen, dann ersetzte plötzlich, einfach so, kalte Luft die Wärme ihres Körpers.
Courtney hätte Holly niemals sterbend allein zurückgelassen. Sie war die Mutigere von uns beiden. Sie tat immer das Richtige. Und wenn ein guter Charakter auch nur irgendetwas zählen würde, dann wäre ich jetzt unter der Erde begraben und nicht meine Schwester. Aber ich bin nicht nur immer noch am Leben, ich bin auch noch der Zwilling, an den die Superkraft des Zeitreisens weitergegeben wurde.
In dem Moment, als die Dunkelheit mich einhüllte, kam ein kleiner, untersetzter Mann ungefähr meines Alters, gefolgt von Dad, hinter Courtney angerannt. Ich gab mir alle Mühe, mir sein Gesicht einzuprägen. Konzentrierte mich so lange darauf, wie mein Körper es zuließ.
»Da ist sie!«, hörte ich den Mann rufen.
»Schießen Sie nicht auf ihn!«, schrie Courtney. Aber dann waren sie alle weg. Oder ich war weg. Zurück ins Fegefeuer.
12
Sonntag, 9. September 2007, 21 Uhr 20
»Hey! Geht’s Ihnen gut?«, rief eine Männerstimme in mein Ohr.
»Er wollte einfach abhauen, ohne zu zahlen, und dann hab ich gesehen, wie er ohnmächtig umgekippt ist«, sagte die Kellnerin.
»Wie lange war er denn ohne Bewusstsein?«, fragte jemand anders.
»Ungefähr zehn Minuten«, sagte die Kellnerin.
Na toll. Hier würde ich mich nie wieder blicken lassen können. Ich starrte zur Decke hoch und zwang mich, vom Boden aufzustehen. Das war ein schwieriges Unterfangen, aber schließlich gelang es mir mit der Hilfe
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