Sturz in die Zeit: Roman (German Edition)
bemerkt?« Er schien dieses Wort voller Bedacht ausgewählt zu haben. »Bist du zum Beispiel irgendwo aufgewacht und wusstest nicht genau, wie du dort hingekommen bist?«
»Mann, jetzt macht ihr mir aber langsam Angst.«
»Was ist mit einem fotografischen Gedächtnis? Kannst du ganze Buchseiten Wort für Wort wiedergeben, oder möglicherweise auch Wegbeschreibungen oder Landkarten?«, fragte Melvin.
»Sollte ich das denn können?«
»Bei deinen Erbanlagen wäre das schon möglich …«
Dad räusperte sich laut.
»Entschuldigung, ich meinte, dass es möglich ist, wenn dieser Bereich deines Gehirns Aktivität zeigt«, korrigierte sich Melvin.
Es wäre schön gewesen, wenn ich die Ruhe selbst gewesen wäre, denn dann hätte ich meine Worte sorgfältig wählen können, aber das war an diesem Tag einfach nicht drin.
»Welcher Teil des Gehirns ist es denn? Ich bin schließlich kein Idiot. Ich hab Anatomie und Physiologie belegt.«
»Wann?«, fragten die beiden wie aus einem Mund.
Ups, an der Uni. »Äh … eigentlich war das eher ein Seminar. Ein eintägiger Workshop … ehrlich, ich bin bloß dahin gegangen, um nicht zu diesem Algebra-Test zu müssen …«
Dad drehte sich zu mir um und sah mich intensiv an. »Hör zu, Jackson. Du … du bist adoptiert. Courtney natürlich auch. Es tut mir leid, dass ich es dir nie gesagt habe, aber es gab nie einen Grund dazu. Bis jetzt.«
Diese Art von Schock zu simulieren war schwierig, und ich war mir ziemlich sicher, dass er diese Bombe platzen ließ, um mich von dem kleinen Ausrutscher über meine Erbanlagen abzulenken, der Melvin unterlaufen war. Ich beschloss, einen anderen Kurs einzuschlagen, als den Schock vorzuspielen. »Äh … ja, Dad … Das habe ich mir schon vor langer Zeit gedacht.«
»Wirklich?«, fragte Melvin.
»Na ja … wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich und …« Mir fiel kein guter Grund ein, weil mich eine andere Frage beschäftigte: »Und diese andere Geschichte darüber, dass meine Mutter an Komplikationen bei der Geburt gestorben ist? Ist die denn wahr?«
Dad schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Tut mir leid, dass ich dir das nie gesagt habe.«
Jetzt fühlte es sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Dass Dad nicht mein Dad war, wusste ich ja bereits, aber nun schien es auch noch so, als wüsste ich weniger über meine Mutter, als ich gedacht hatte.
Melvin setzte sich neben mich auf den Tisch und legte seinen Arm um mich, als wäre ich ein verletztes kleines Kind. Halb erwartete ich, dass er seine Schublade aufzog und einen Lolli für mich herausholte. »Jackson, du musst wissen … Uns liegt keine Familienanamnese für dich vor. Als Arzt bin ich darauf angewiesen, vor einer Diagnose auch die Krankengeschichten anderer Familienmitglieder auswerten zu können.«
Als ich Melvin laut aussprechen hörte, dass ich keine echte Familie hatte, musste ich schwer schlucken. Gab es noch jemanden, der tun konnte, was ich konnte? Oder war ich einfach nur ein verrückter Mutant, den man am Straßenrand aufgelesen hatte? »Sie meinen also, dass derjenige, von dem ich abstamme, wer auch immer das ist, dieselbe merkwürdige Gehirnaktivität hatte wie ich?«
»Nicht genau dieselbe, aber eine ähnliche.«
Zu meiner Überraschung kam Dad plötzlich aus seiner sorgsam aufrechterhaltenen Deckung, sah Melvin wütend an und sagte: »Nein, er ist kein bisschen wie sie. Das sage ich Ihnen schon seit Jahren.«
Er verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Melvin starrte eine Weile die Tür an, dann wandte er sich mit großen Augen wieder mir zu.
»Kennt er meine echten Eltern?«, fragte ich.
Melvin schüttelte den Kopf. »Er ist nur etwas mitgenommen wegen deiner Schwester. Es ist meine Schuld, ich habe die schlimmen Erinnerungen wieder wachgerufen. Ihr Krebs war so aggressiv und selten, und da eure echten Eltern tot sind und wir keine Familienanamnese haben, können wir die Möglichkeit, dass du das gleiche Krebs-Gen hast, nicht ignorieren.«
Was für eine perfekte Story. Zu dumm, dass da was fehlte. Diese Leute aus dem unterirdischen Stockwerk, die mich, Dad und Melvin kannten, passten nirgends in die Geschichte, die sie mir da auftischten. Mein Vater und Melvin hatten gerade zu einer Taktik gegriffen, die ich auch schon oft angewandt hatte. Wenn ich zum Beispiel beschuldigt wurde, in der Schule oder zu Hause etwas richtig Schlimmes angestellt zu haben, gab ich stets ein kleineres Vergehen zu, um von der ursprünglichen Anschuldigung
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