STYX - Fluss der Toten (German Edition)
lahmen Körper durch den Gang aus Zweigen, Erde und Müll voranzutreiben, dem fernen Licht entgegen.
Dann prasselte Regen auf seinen Körper. Kaltes Wasser, das unangenehm in seine Haut stach wie Nadeln. Navin begann sofort zu frieren. Er schwankte, versuchte, sich von Händen und Knien aus aufzurichten, doch ihm wurde sofort schwindelig und er musste sich wieder hinsetzen, den Eingang zu seinem Nest aus Zweigen im Rücken, den Regen im Gesicht. Er blinzelte, um das Wasser loszuwerden, das in seinen Wimpern hängenblieb und ihm die Sicht verschleierte. Er wollte das Mädchen sehen, doch alles was er erkennen konnte, war ein dunkler, sperriger Schatten vor dem helleren Hintergrund des Himmels.
»Sie sind ja in einem Zustand«, stellte das Mädchen fest. Etwas raschelte und knisterte und dann spürte Navin, wie etwas Klebriges in seine nasse Hand gedrückt wurde. Er starrte darauf, blinzelte mehrfach und versuchte eine ganze Weile Sinn in den Gegenstand zu bringen, bis er erkannte, dass es sich um einen halben Schokoriegel handelte.
»War eigentlich für die Kleinen«, sagte das Mädchen. »Und besonders appetitlich sieht es auch nicht mehr aus, weil ich es aus dem Fluss gefischt habe. Aber ich glaube, Sie brauchen den Zucker.«
Noch immer starrte Navin auf den Riegel und fragte sich, was er damit machen sollte. Sein Hirn schien nicht mehr richtig zu arbeiten.
»Essen!«, wies das Mädchen ihn streng an. Doch als Navin gehorsam versuchte, das klebrige Ding zum Mund zu heben, fiel sein Arm auf einmal wieder schlaff herab. Es war, als sei die Anstrengung, aus diesem Loch zu kriechen, schon zu viel für seinen Körper gewesen.
Das Mädchen seufzte, kauerte sich neben ihn und nahm ihm den Riegel wieder ab. Gleich darauf spürte Navin, wie etwas gegen seine Lippen stieß. Wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal gefüttert wird, öffnete er zögernd den Mund und das Mädchen stopfte den Schokoriegel hinein.
»Kauen«, wies es ihn nun an und Navin bemerkte zu seiner Freude, dass er diesem Befehl problemlos Folge leisten konnte. Offensichtlich hatte sein Körper noch nicht alles vergessen, was zum Überleben gehörte. Er kaute, schmeckte die süße, etwas muffige Schokolade auf seiner Zunge und schluckte. Es war ein ungewohntes Gefühl, so lange hatte er nichts mehr gegessen, doch als der Bissen einmal unten war, spürte Navin, wie sein Körper gierig nach mehr verlangte.
Dieses Mal gelang es ihm, selbst die Hand zu heben und den Rest des Schokoladenriegels in seinen Mund zu schieben. Er konnte beinahe spüren, wie der Zucker sich in seinem Körper ausbreitete und seine Lebensgeister zurückkehrten. Allmählich klärte sich auch sein Blick und zum ersten Mal war er in der Lage, das Mädchen, das ihn gerettet hatte, in Augenschein zu nehmen.
Sie war nicht so jung, wie er ihrer Stimme nach geglaubt hatte. Vielleicht nicht einmal mehr ein richtiges Mädchen, schon eher eine junge Frau, vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Sie wirkte hager, aber das war nichts Besonderes in diesen Zeiten der Not, trug eine vom Regen durchtränkte dunkle Trekkinghose und eine weite Parka mit heruntergeschlagener Kapuze. Offensichtlich machte es ihr nicht das Geringste aus, dass der strömende Regen ihr kurzes blondes Haar durchnässte und in langen Spuren über ihr schmales Gesicht rann. Sie hatte dunkle Augen, groß und beinahe schwarz. Ihr Gesicht erinnerte Navin ein wenig an einen Totenschädel. Mit etwas mehr auf den Rippen, und einem weniger wachsamen Blick, hätte sie hübsch sein können. So war sie einfach nur ein Mädchen, ein hungerndes Wesen, genau wie er, und wahrscheinlich halb wild.
Sie beobachtete Navin misstrauisch, die Hände in die Jackentaschen gestopft, den ganzen Körper angespannt wie eine Triebfeder. Vermutlich hatte sie mindestens ein Schnappmesser in der Tasche, wenn nicht sogar eine Schusswaffe.
»Danke«, würgte Navin hervor. »Das hättest du nicht tun müssen.«
Sie hob die Schultern ein wenig. Wirkte unschlüssig, was sie jetzt tun sollte.
»Wie heißt du?« Nun, heraus aus dem Loch, ein wenig Essen im Magen, hatte Navin auf einmal das wilde Bedürfnis nach einen Gespräch. Irgendetwas, dass den Alltag von vor der Katastrophe zurückbrachte.
»Cassie«, erwiderte sie. »Kannst du gehen? Wir haben ein Stück den Fluss hinunter eine Scheune, da kannst du dich trocknen und ausruhen.«
»Wir?«
Wieder hob sie die Schultern. »Musst keine Angst haben, wir tun niemandem etwas.« Sie versuchte sich an
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