STYX - Fluss der Toten (German Edition)
irgendwo in Nordschweden, oberhalb des Polarkreises. Die Sonne ging nie richtig auf um diese Jahreszeit. Und alles war voller Schnee. Der Fluss war viel kleiner und es gab keine Fähre, sondern eine Brücke. Einen halben Tag hatte sie hier im Nirgendwo wegen einer Autopanne warten müssen. Hier, in der hintersten Ecke von Lappland, wo vielleicht ein, zwei Mal am Tag ein anderes Auto vorbeikam. Aber was hat dieser Ort zu bedeuten? Wie ist sie hierher gekommen, und warum? Sie hat es vergessen.
»Wo bin ich hier?«, fragt sie den Mann.
Der antwortet nicht, aber hinter ihm ertönt eine andere Stimme: »An einem Fluss.«
Der greise Mann, der dies gesagt hat, trägt weite, weiße Kleidung – eine Art Umhang – und steht ein Stück entfernt.
Er sieht sie nicht einmal an, während er mit ihr spricht, sondern betrachtet den leeren Himmel. Neben ihm sitzt ein ähnlich gekleideter Mann auf dem Boden und malt mit einem Stock Kreise in die staubige Erde. Sie schüttelt ungläubig den Kopf. Dieser Ort kommt ihr seltsam und surreal vor, aber es fühlt sich nicht wie ein Traum an.
Sie dreht sich um und fragt verunsichert: »Ist das hier real?«
»Nein«, antwortet der mit den Kreisen bestimmt.
»Ja«, antwortet der andere ebenso bestimmt.
Die Frau blickt die beiden verwundert an. »Ist das ein Traum?«
»Ja«, antworten beide dieses Mal.
Die Frau weiß nicht, was sie davon halten soll. Doch bevor sie etwas sagen kann, bemerkt der Kreisemaler zu dem anderen: »Dies ist eindeutig eine Traumwelt. Diese Welt ist widernatürlich, nicht real. Sieh Dir deinen Himmel an. Die Realität, die objektive Realität, ist woanders.«
Der Himmelschauer widerspricht heftig: »Nein, nein. Die Wahrnehmung ist trügerisch. Wir sehen die Welt nicht wie sie ist. In Wahrheit ist das, was gedacht wird, viel realer als das, was wir wahrnehmen.«
»Aber welchen Sinn hat eine Wahrheit, die keinen Bezug zu unserem Erleben hat?«
Der Himmelschauer schweigt und starrt weiterhin in die sternenlose Schwärze über sich.
*
»Wollen Sie nun über den Fluss?«, fragt der alte Fährmann am Ufer und deutet auf die rostige Fähre. »Jeder muss irgendwann über den Fluss.«
Die Frau sieht ihn irritiert an. Sie versteht nicht warum, aber sie weiß, dass er recht hat. Sie will über den Fluss, aber sie kann sich nicht mehr erinnern warum. »Wieso? Was ist da drüben?«
Der Fährmann schweigt. Stattdessen antworten ihr erneut die anderen Männer.
»Nichts!«, sagt der Kreisemaler.
»Alles!«, sagt der Himmelschauer. »Alles, was noch übrig ist.«
Der andere nickt und fügt hinzu: »Aber das ist nichts.«
Der Himmelschauer will etwas erwidern, doch der Fährmann erstickt seine Antwort mit seiner sonoren Stimme: »Haben Sie ein Ticket?«, fragt er die Frau.
Sie schüttelt den Kopf und antwortet verunsichert: »N ... Nein. Was für ein Ticket?«
»Sie brauchen ein Ticket, wenn sie über den Fluss wollen. Wollen Sie eins kaufen?«
Die Frau will spontan nach ihrer Tasche greifen und bemerkt plötzlich, dass sie weder ihre Tasche, ihren Geldbeutel noch sonst irgendetwas dabei hat. Sie ist völlig nackt und hatte es gar nicht bemerkt, doch sie spürt keinerlei Scham. Es ist ihr egal.
»Ich ... ich habe kein Geld dabei«, sagt sie.
Der Fährmann wendet sich ab. »Dann«, sagt er, »kann ich Sie nicht hinüberbringen.«
Zutiefst verwirrt starrt sie erst auf den Fährmann, dann auf den schwarzen Fluss. »Wie soll ich denn hier an Geld kommen?«, fragt sie verwundert, während sie noch immer auf den Fluss blickt.
Der Himmelschauer hinter ihr sagt: »Habt ihr denn da draußen kein Geld mehr? Geld – das muss man verdienen!«
Sofort wirft der Kreisemaler ein: »Aber doch nicht hier. Das meint sie doch gar nicht. Das Geld, das Sie brauchen, hätten Sie sich von jemandem mitgeben lassen müssen«, erklärt er zu ihr gewandt. „Und wenn man es von jemandem bekommt, hat man es dann nicht verdient?“
Der Kreisemaler lässt kurz von seinen Berechnungen ab, die er neben seine Kreise kritzelt und blickt nachdenklich auf den anderen Mann. Dann schreibt er weiter an seinen kryptischen Symbolen.
*
»Ein bisschen früh ist sie ja schon«, sagt der Himmelschauer. Er wendet seinen Blick zu der jungen Frau und fragt: »Was machen Sie denn schon hier? So früh?«
Sie setzt sich auf den Boden, vor einen abgebrochenen Baumstamm, und verschränkt die Arme. »Ich weiß es doch auch nicht. Woher soll ich das wissen?«
Der Himmelschauer schüttelt den Kopf. »Sie sind es
Weitere Kostenlose Bücher