STYX - Fluss der Toten (German Edition)
doch, die hierher gekommen ist. Wenn Sie es nicht wissen, wer sonst?«
Ein entfernter Gedanke drängt sich in ihren Kopf, doch bevor sie ihn fassen kann durchbohrt ein starker Schmerz ihr Gehirn. Sie schreit und fällt zur Seite, hämmert mit den Fäusten auf den Boden und bleibt keuchend liegen. Sie erinnert sich an den Schmerz. Er ist der Grund, warum sie hier ist. Sie ist vor dem Schmerz hierher geflohen. Und sie wird nicht zurückgehen.
Mit dieser Gewissheit vertreibt sie den Schmerz. Ihre Schläfen pochen noch immer, doch sie kämpft dagegen an, setzt sich auf und putzt ihre Hände ab. Sie bemerkt einen kleinen roten Punkt an der Rückseite ihrer rechten Hand. Neugierig hält sie ihn vor ihre Augen und betrachtet ihn. Ein kleiner Tropfen Blut fließt heraus.
Im gleichen Moment spürt sie etwas unter der Zunge. Sie würgt, hustet und spuckt es auf den Boden. Sie ringt nach Atem und wischt sich den Speichel vom Mund.
Etwas Silbriges glänzt auf dem staubigen Boden.
Sie drückt sich von dem Baumstamm und setzt sich auf ihre Knie. Vorsichtig hebt sie das feucht-glänzende Etwas auf, reibt den Dreck herunter und betrachtet es.
Es ist eine alte abgegriffene Ein-Kronen-Münze.
»Na das wurde aber auch Zeit!«, sagt der Himmelschauer. »Sie sollten sich beeilen, die Fähre legt bald ab.«
Der Kreisemaler kratzt schwungvoll den Mittelstrich in ein Theta und sieht ihn belustigt an. »Sei doch nicht albern. Sie ist die einzige Passagierin. Die Fähre fährt dann los, wenn sie will.«
»Also bald«, erwidert der andere.
Die Frau schüttelt den Kopf, steht auf und geht zur Fähre. Sie hält dem Fährmann die schmutzige Münze entgegen und fragt: »Reicht das?«
Er lehnt sich nach vorne und betrachtet das Geldstück eine Weile.
»Ja. Wollen Sie dann übersetzen?«
Sie nickt und folgt ihm auf das kleine Schiff.
Ein paar Sekunden später springt der alte Dieselmotor an.
Am Ufer stehen noch immer die zwei Männer in ihren weißen Gewändern, malen Kreise und schauen in den Himmel.
*
In einer anderen Welt zieht ein anderer Mann in einem weißen Gewand eine Injektionsnadel aus dem Arm der jungen Frau und legt sie in einen Behälter.
Die Nadel glänzt silbrig.
Ein letztes Mal blickt er auf das MRT-Bild mit der weißen, wuchernden Masse im Großhirn und seufzt.
Dann schiebt er es zurück in den Umschlag.
Der dunkle Fluss
Dennis Huber
Ich war nicht immer verrückt.
Es gab eine Zeit, in der ich sogar ziemlich durchschnittlich war oder zumindest dachte, es zu sein. Eine Zeit, in der ich jeden Morgen aufwachte und an nichts anderes denken musste als an den Tag vor mir. Keine irrationalen Ängste, keine Bilder, die mein Verstand nicht zu vergessen im Stande war.
Man konnte sagen, dass der heutige Morgen diesen wunderbaren, längst vergangenen Tagen noch am nächsten kam.
Normalerweise mochte ich Montage nicht. Sie rissen meinen Verstand aus der Freiheit des Wochenendes, zwangen ihn zurück in die Bahnen des banalen Alltags. Und doch, dieser Montag hatte gut begonnen, wenn man so etwas über einen Montag sagen konnte.
Durch das offene Fenster begrüßte mich eine Brise frischer Morgenluft. Sie trug das Versprechen eines wunderbaren Tages auf ihren Schwingen. Ich blieb noch eine Weile im Bett liegen und lauschte dem Gesang der Vögel. Wenn ich meine Fantasie nur genügend anstrengte, konnte ich in ihrem Zwitschern die Sehnsucht nach der aufgehenden Sonne hören. Der Lärm der Autos, das Stimmengewirr der Menschen – all das war weit weg.
Ich lebte in dem Vorort einer großen Stadt, weit draußen, wo die Menschen nur hinfuhren, wenn sie wirklich mussten. Eine kleine Gemeinde. Manche wohnten freiwillig dort. Andere waren Flüchtlinge; vor sich selbst, der Wirtschaft, die langsam unter ihrem eigenen Gewicht zerbröckelte, oder einfach nur der Vergangenheit. Manchmal vermisste ich die Anonymität der Großstadt, einem Ort, an dem du einfach nur ein Gesicht unter Millionen sein kannst. Ein einsamer Punkt mitten im Sturm. Auch ich war hierher geflüchtet und nicht freiwillig gekommen. Ich hatte Angst vor dem Alleinsein. Nichts wäre mir lieber gewesen, als einfach nur von der Welt vergessen zu werden. Ignoriert von der eigenen Vergangenheit, wie in jenen Tagen, da ich noch nicht verrückt gewesen war. Und doch hatte sie mich eingeholt: an diesem schönsten aller Tage.
Als Redakteur einer kleinen Zeitung mit kaum nennenswerter Auflage begann mein Tag in der Regel sehr früh und endete spät. Obwohl ich gern noch
Weitere Kostenlose Bücher