STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Mutter weinte bitterliche Tränen, der Vater stützte sie.
Traurig blickte Helena über die Gruppe. Niemand schaute sich um. Die Welt der Toten hatte sie sich anders vorgestellt, träumte einstmals von schillernden Farben, von Freude und Gelächter. Doch hier herrschte Verbitterung, Wut und Ratlosigkeit.
Helena führte ihre Hand zu ihrem Mund und spuckte die Münze aus, welche man ihr unter die Zunge gelegt hatte. Der Obolus für Charon, den Fährmann, der sie sicher über den Styx geleiten sollte. Vielleicht würde es im Hades jene Welt geben, nach welcher sie sich sehnte.
Traurig legte sie die Münze zurück unter ihre Zunge. Der metallene Geschmack war fürchterlich.
Ihre kleinen Füße, geschützt von weißen Sandalen, trugen sie flink den schmalen Pfad zum Ufer hinab. Etwas abseits stand eine große Gruppe verlorener Seelen. Neidisch und zornig starrten diese zu den Neuankömmlingen herüber. Zwei Kinder verbargen sich vor ihren Blicke schützend hinter dem Kleid ihrer Mutter.
Helena hätte zu gern erfahren was ihnen geschehen war, aber ihr Vater hatte ihr am Sterbebett erklärt, dass sie niemals den Mund aufmachen dürfe, bis Charon den Obolus in Empfang genommen hätte und sie sicher auf dem Schiff war. Also presste sie kräftig ihre Lippen aufeinander und stellte sich wortlos zu der Gruppe vom Friedhof.
Immerzu schielte sie aus dem Augenwinkel zu den anderen Seelen hinüber. Offenbar hatte keine von ihnen eine Münze bekommen, doch ohne Münze gab es keine Überfahrt. Das machte Helena traurig. Unzählige Kinder und etliche alte Leute waren unter den Verdammten. Wie lange sie wohl ausharren mussten, bis sie die ewige Ruhe finden würden?
Helena schüttelte den Kopf. Es war nicht ihre Aufgabe, sich damit auseinanderzusetzen. Die Eltern hatten ihr den Obolus mitgegeben, somit würde sie in die Welt fahren dürfen, die sie verdiente.
Der Styx lag ruhig vor der Gruppe. Leise plätscherten seine sanften Wogen gegen den schmalen Holzsteg, der ins Wasser reichte. Doch plötzlich verdunkelte sich der graue Himmel und über den Horizont peitschte ein eisiger Wind den Fluss entlang und brachte das eben noch ruhige Gewässer in Aufruhr, dessen gräuliche Farbe einem düsteren Schwarz wich.
Ängstlich trat Helena einen Schritt zurück. Der Wind riss an ihrem Kleid. Ihre blonden Locken tanzten im Wind. Die Haarspangen konnten ihre Mähne nicht länger bändigen und dicke Strähnen peitschten ihr ins Gesicht. Ein eiskalter Schauer lief über den Rücken des Mädchens.
Es war soweit: Charons Ankunft stand unmittelbar bevor.
Am Horizont tauchte ein Schiff auf. Ohne Segel, ohne Motor. Eine hagere Gestalt stand darauf, nur mit einem Schurz um die Lenden bekleidet. Seine braunen Haare verschmolzen nahezu nahtlos mit dem Braun der Schiffsplanken, sein Bart war lang und struppig. Obwohl er ausgemergelt und kraftlos wirkte, machte er Helena Angst. Seine schwarzen Augen musterten die Gruppe genau. Jedes Gesicht beäugte er aufmerksam und mit strengem Blick. Helena war sicher, dass er es einem ansah, ob man die Überfahrt bezahlen konnte oder nicht.
Ein Raunen und Rumoren ging durch die Gruppe der verlorenen Seelen. Einige setzten zum Sturm auf das Schiff an, doch Charon wehrte sie mühelos ab. Mittlerweile war die Gruppe der Neuankömmlinge mit denen der Verdammten verschmolzen. Es herrschte lautes Durcheinander. Helena wurde herumgeschubst, man zog an ihren Haaren. Charon schlug wild um sich, verwehrte den Zugang zum Schiff.
Seelen stürzten in den Styx. Es zischte und brodelte. Wellen schlugen über den Schatten zusammen und rissen sie in die Tiefe. Es klang, als würde das Wasser gierig schmatzen.
Ein Junge, gerade so alt wie Helena, zog das Mädchen beiseite. Hinter einem kargen Felsen gingen beide in Deckung. Er lächelte. Helena nickte ihm schüchtern zu.
»Ich bin Alexandros«, flüsterte er. »Das passiert immer, wenn Charon kommt, um neue Seelen in den Hades zu bringen.«
Helena nickte erneut. Sie war Alexandros unendlich dankbar. Sie hatte befürchtet, selbst ausversehen in den Styx zu fallen und von ihm verschlungen zu werden.
Die Kinder sahen einander ausgiebig an. Helena vermutete, dass der Junge etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Seine langen schwarzen Haare verschmolzen mit den breiten Augenbrauen. Seine Augen waren faszinierend: stechendes Grün, klar und rein. Doch seine Gesichtszüge waren wenig markant und auch der Rest an ihm unscheinbar, schmächtig und klein.
»Ist was?«, stutzte Alexandros
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