STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Überfahrt kostet einen Obolus!«
Fassungslos sah ich ihn an. Meine Hoffnung, so schnell wie möglich von diesem Ort wegzukommen, schwand dahin. Ich sah mich um. Ich musste den Fluss überqueren, das war der einzige Weg. Aus irgendeinem Grund war ich mir, was das anging, plötzlich sehr sicher. Und schwimmen konnte ich nicht. Die Kreaturen würden mich wieder in die Tiefe ziehen. Das würde ich kein weiteres Mal überleben.
»Aber ich habe doch nichts ...« Ich fühlte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. »Ich habe keine Obolus für die Überfahrt.«
»Dann kann ich dir leider nicht helfen«, erklärte die vermummte Gestalt und stieß sich mit dem Stock vom Ufer ab.
»Warte!«, schrie ich dem Mann verzweifelt nach. »Irgendetwas muss ich doch tun können!«
Ich erwartete, dass der Kapuzenmann einfach weiterfahren und mich nicht mehr beachten würde. Doch er zögerte, schien zu überlegen. Schließlich drehte er sich um. »Es gibt da etwas, das du tun kannst.«
Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Freudestrahlend sah ich den Mann an. »Was ist es? Ich würde alles tun!«
»Im Herzen dieses Waldes wächst eine sagenumwobene Frucht. Der süße Geschmack und die feine Frische sind einfach unbeschreiblich. Leider kann ich in den Genuss nicht kommen. Ich bin dazu verdammt, die Seelen zu geleiten, und darf mein Boot nicht verlassen. Würdest du mir eine solche Frucht holen?“
Ich überlegte. Das war ja keine schwere Aufgabe, die er mir gestellt hatte. Über die Schulter sah ich zurück. Düster lag der Wald vor mir. War er gefährlich? Beim Gedanken an Raubtiere, die mich fressen konnten, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Aber ich durfte jetzt nicht kneifen. Ich musste meinem Bruder und aller Welt beweisen, dass mehr in mir steckte.
»Ich werde es tun!«, antwortete ich dem Fährmann mit fester Stimme. »Aber, wie sieht die Frucht denn aus?«
Ein raues Lachen ertönte. »Du wirst sie schon erkennen!«
*
Es fühlte sich an, als würde sich mein gesamter Körper vor Nervosität zusammenziehen. Die Fürsten des Umlandes waren in das Anwesen meines Herrn eingekehrt, um mit ihm zu speisen und den Sieg ihres Bundes über das Nachbarland zu feiern. Hedda, die unfreundliche Frau, die mich schon seit Wochen trietzte, hatte mich dazu abkommandiert, die Gemeinschaft zu bedienen. Sie wusste ganz genau, wie unangenehm mir das war. Jede Sekunde, die verstrich, wünschte ich mich mehr an einen anderen Ort.
Ungeschickt balancierte ich die Teller auf meinen dünnen Armen und versuchte mir die Atemtechnik ins Gedächtnis zu rufen, die Hedda mir gezeigt hatte, um das Gleichgewicht zu halten. Doch ich konnte mich einfach nicht erinnern. Und je fieberhafter ich suchte, umso unruhiger wurde ich.
»Verdammt Mädchen! Pass doch auf!« Wie ein tosender Fluss breitete sich der zinnoberrote Wein über dem Gewand des Fürsten und der perlmuttfarbenen Tischdecke aus. Als ich die Platte auswechselte, musste ich mit dem Ellbogen gegen das Glas gestoßen sein.
»Schau, was du getan hast!« Das Gesicht des Fürsten nahm die Farbe des Weines an, so rot war er vor Wut. Zornig erhob er die Hand zum Schlag. Ich duckte mich ängstlich und wartete. Doch der Schmerz, den ich erwartete, blieb aus.
Vorsichtig öffnete ich die Augen und blickte in das lächelnde Antlitz eines jungen Fürsten. Anders als bei den anderen Fürsten, waren seine Haare noch nicht von ergrauten Strähnen fast vollständig durchzogen. Die kurzen Haare leuchteten in einem hellen Haselnussbraun.
»Na aber, Loxlye. Sie werden doch wohl nicht Hand an dieses arme Mädchen legen!« Er gab einem seiner Untergebenen ein Zeichen. »Mein Diener wird Ihnen ein frisches Gewand geben.«
Der Fürst nickte zögerlich. Er wagte es scheinbar nicht, dem seltsamen jungen Mann Wiederworte zu geben. Er wirkte so jung. Warum hatten die anderen Fürsten so viel Respekt vor ihm?
»Es ist alles in Ordnung«, zwinkerte er mir zu und setzte sich wieder an seinen Platz neben meinem Herren, der die ganze Szene argwöhnisch beobachtet hatte.
Ich erwachte aus meiner Starre und lief mit den abgeräumten Platten in Richtung Küche.
»Autsch!« Ich hielt mir die schmerzende Wange. Wütend bäumte sich Hedda vor mir auf. »Du tollpatschiges dummes Huhn! Kannst du nicht aufpassen?«
»Es tut mir leid«, wimmerte ich leise. Der Schmerz in der Wange raubte mir beinahe den Atem.
»Du kannst froh sein, dass sich der junge Herr für dich eingesetzt hat. Ich hätte es jedenfalls
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