STYX - Fluss der Toten (German Edition)
wurde schwarz um mich herum, als mein Kopf aufschlug.
*
Langsam öffnete ich die Augen.
Ein weißer Schleier benebelte meine Sicht.
Ich fühlte mich unsäglich schwach. Ganz so, als hätte man mir mit einem Hammer jeden Knochen einzeln zertrümmert. Harte Steine spürte ich, die sich in meinen Rücken bohrten. Wo war ich hier?
»Jenna! Jenna!«
Eine Stimme drang leise an mein Ohr. Erst aus der Ferne, dann immer näher. Wer rief da nach mir?
»Jenna! Jenna, wach auf!«
Ich kannte diese Stimme, doch konnte mich nicht mehr erinnern ...
Eine Hand ergriff meine Schulter, rüttelte an ihr.
»Komm schon! Bitte, du musst aufwachen!«
Ich wusste, wer das war. Als sich der Schleier vor meinen Augen löste, sah ich in vertraute smaragdgrüne Augen. Es war Holly, meine beste Freundin. Aus tränennassen Augen sah sie mich an und ein Lächeln fuhr auf ihr Gesicht. Hinter ihr liefen einige seltsam gekleidete Männer um uns herum. Sie flüsterten sich Worte zu, die ich nicht verstand.
»Jenna! Du lebst!«
Ein starker Schmerz durchzuckte meinen Körper. Leise stöhnte ich auf und schloss kurz die Augen.
»Wo ist Fynn?«, flüsterte ich. Meine Stimme glich eher einem Kratzen.
Unsicher wanderte Hollys Blick umher, sah mich verwirrt an.
»Wer ist Fynn?«
Ungläubig sah ich sie an, doch ich war zu schwach, um zu antworten. Langsam ließ ich meinen Kopf zurücksinken, hatte nicht mehr die Kraft, ihn aufrecht zu halten. Ich sah hinauf zu dem graublauen Himmel, der von Wolken fast vollständig verhangen war, und wusste plötzlich ganz genau, dass dies mein letzter Blick auf diese blaue Schönheit war. Trotz dieser Gewissheit hatte ich keine Angst. Ich hatte keinerlei Angst; weder vor dem, was vor mir lag, noch vor dem, was ich schon erlebt hatte.
Vertraute Augen sahen sanft auf mich herab. Er streckte seine Hand aus und flüsterte mir beruhigende Worte zu.
»Fynn ...«, wisperte ich lächelnd und schloss die Augen. Dann ergriff ich seine Hand.
*
Mein Bruder ist kein böser Mensch.
Nein, eigentlich ist er der fürsorglichste Mensch, den ich kenne. Er war immer für mich da und immer an meiner Seite. Ich habe ihm vertraut, ihn geliebt. Er war der wichtigste Mensch für mich. Der Einzige, der wirklich immer für mich da war.
Doch Fynn existiert nicht wirklich ...
Fynn ... bei dem Gedanken an ihn schleicht sich immer wieder ein Lächeln auf mein Gesicht. Er ist mein Bruder; mein lieber, älterer Bruder.
Noch vor meiner Geburt ist er gestorben, doch ich habe ihn immer bei mir gespürt. Habe ihn in meinen Träumen, und wenn ich wach war, immer an meiner Seite gehabt.
Er war immer bei mir. Hat mir geholfen, mich gestärkt.
Mein Bruder ist kein böser Mensch ...
Doch was ist mit mir?
Über den Styx
Sebastian Gaidus
Es ist möglich, ja, für jedes lebende Wesen sogar irgendwann notwendig, die Grenze der materiellen Welt zu jener anderen Welt zu überschreiten. Jener anderen Welt, die zu jeder Zeit und von allen Kulturen bestaunt und gefürchtet wurde, von der das Menschengeschlecht jedoch so wenig weiß, dass ich mich hier nicht einmal auf eine Bezeichnung wie »Jenseits«, »Totenreich« oder dergleichen festlegen möchte.
Tatsächlich wären eben genannte Namen auch schon völlig unzureichend, da sie jenes »Reich des Anderen« auf das Land der Toten beschränken – die Wirklichkeit scheint aber zu sein, dass zu diesem, in enger Verbindung und untrennbar mit ihm verwachsen, andere Regionen, wie die nebligen Traumlande gehören. Schon die alten Griechen stellten Schlaf und Tod schließlich als Zwillinge und Diener Hades’ dar.
Ob es Grauzonen oder – anders ausgedrückt – Zwischenräume zwischen den beiden großen Reichen gibt, die der Lebendige betreten und wieder verlassen kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Sicher – im Schlaf können wir Blicke in die andere Welt erhaschen; aufhalten können wir uns dort jedoch nicht. Und von den Toten ist bekanntlich noch niemand zurückgekehrt.
Es kann somit als sicher gelten, dass es zwischen den Welten Trennlinien gibt, die nur in eine Richtung überschritten werden können. Eben dies soll vorliegendes Schriftstück belegen, denn es beschreibt den Versuch, sich den alten Fährmann Charon so weit gewogen zu machen, dass er einen kurzen Aufenthalt in jenen abseitigen Landen gewährt – und auch die Rückkehr erlaubt.
Ich selbst nahm mit meinem unglücklichen Freund Wolfgang Lehms dieses Unterfangen auf mich, wofür ich die Götter noch einmal um Vergebung bitten
Weitere Kostenlose Bücher