STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Kleidung hervorschob und ich schüttelte sie, zum Letzten entschlossen, und sie sah aus wie ein filigranes Gebilde aus weißestem Marmor und fühlte sich an wie ein geschnürtes Bündel Schicksal. Warum war ich bereit, diesem verblendeten Propheten zu folgen? Damals wusste ich es nicht und heute bin ich nicht klüger. Vielleicht war es eine dunkle Veranlagung, die sich nun ans Tageslicht schleppte oder Überdruss ob der Durchschau-barkeit des täglichen Einerlei; vielleicht wäre aber auch jeder dem teuflischen Charme Wolfgang Lehms erlegen gewesen.
Vorbereitungen hatte dieser inzwischen getroffen: Wolfgang hatte sich in einer kleinen verschwiegenen Ortschaft erfolgreich um den Posten des Totengräbers beworben, wobei das kümmerliche Gehalt der geringen Anzahl anfallender Toter durchaus angemessen war. Aber das Finanzielle war schließlich nicht seine Motivation gewesen, was dies betraf brauchte er sich aufgrund seines ererbten Vermögens keine allzu großen Gedanken zu machen.
Von diesen Geldern erwarb er auch ein altes zweistöckiges Haus, das an den Friedhof grenzte und uns fortan als Wohnung dienen sollte. Stumm und düster lag es da, auf einem leicht ansteigenden Hügel, außen zumeist feucht vom Nebel.
Als ich es das erste Mal sah, war ich zutiefst beeindruckt und überzeugt, dass dies das richtige Objekt für unsere morbiden Tätigkeiten darstellen würde. Ich schauderte regelrecht beim Anblick seines schadhaften Daches, das sich, beinahe bis zum Boden reichend, wie die schwarzen Schwingen eines höllischen Raubvogels schützend über unsere Machenschaften legen würde.
Der Atem stockte mir, als ich das ehrwürdige Portal durchschritt und mich wiederfand in einer staubgesättigten Welt, in der ein unfassbares Fluidum des Verfalls pulsierte. Einzig die relativ neuen Möbel, die Wolfgang hatte hierher bringen lassen, fügten sich nicht in das Bild der Vergänglichkeit. Unter diesen waren auch ein paar gewaltige Bücherregale, die gefüllt waren mit obskuren mittelalterlichen Traktaten, den neusten Schriften der theoretischen Physik und allen Formen abseitiger Literatur.
Gleich nachdem ich mein weniges Gepäck hinauf auf das Zimmer verbracht hatte, das ich fortan bewohnen sollte, ging ich wieder ins Erdgeschoss, ließ mich in einen großen Ohrensessel sinken und widmete mich einem der besonders obskuren Werke.
Wolfgang hingegen hatte deutlich mehr persönlichen Besitz mitgebracht, darunter auch eine aus dunklem Holz gefertigte Geige und diverse Schreibutensilien, und benötigte mehr Zeit, alles an seinen Platz zu bringen. Gegen Nachmittag – die Sonnenstrahlen zogen nunmehr dünne rötliche Fäden durch den immerwährenden Nebel – begaben wir uns das erste Mal auf erwähnten Gottesacker. Damals verspürte ich noch jenen leichten Schauder, den viele empfinden, wenn sie sich zwischen schiefen, verwitterten Grabsteinen bewegen und der Duft des Vergangenen über allem liegt. Wolfgang aber schien schon damals bar aller Skrupel und Scheu vor dem Befremdlichen zu sein. Leicht tänzelnden Schrittes sah ich ihn verträumt umherwandern, sein Antlitz zeigte die Zeichen äußersten Wohlbehagens und seine Nasenflügel blähten sich, auf dass ihm auch nicht der geringste Duft entginge. Kein Zweifel – er hatte sich einmal mehr dem Opiumkonsum hingegeben, doch, so stellte ich erschrocken fest, war ich nicht in der Lage, mir einzureden, dass alles, was der Entrückte in diesem Augenblick sehen mochte, seinen Ursprung in der Droge hatte.
Fortan nahmen derartige Friedhofsbesuche immer mehr von unserer Zeit in Anspruch – und bald bewegte auch ich mich mit viel größerer Selbstverständlichkeit zwischen den Toten; bis das Grauen zu angenehmer Spannung, das Fremde zu Vertrautem und die Angst zu perverser Ekstase wurde. Letztlich kostete es mich sogar Überwindung, mich von der bekannten, im Mondlicht blausilbern schimmernden Erde zu entfernen, wo sich in behaglicher Düsternis die Konturen von klobigen Grüften abzeichneten und verroste-tes Metall grüßend knarrte, wo auch die anderen Freunde der Düsternis auf ihren schwarzen Schwingen dahinglitten und ausgelassen jauchzten.
Schließlich begann auch ich mit dem Opiumrauchen, denn es hilft dabei, bestimmte Dinge wahrzunehmen; es trägt einen näher an die äußeren Sphären des körperlichen Daseins, bis man in der Ferne die kreischenden Vorposten des Anderen Reiches erkennt. So begriffen wir diese Ruhestätte vergangener Generationen immer mehr als alleinigen
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