STYX - Fluss der Toten (German Edition)
möchte. Natürlich werden sie mir dies nicht gewähren, denn sie sind es, die Naturgewalten gleich über die ehernen Gesetze wachen, die jeder Mensch schon instinktiv befolgen sollte. Wahrscheinlich kannten wir die Konsequenzen unserer Blasphemie von Anfang an – und nahmen sie in unserer Verblendung in Kauf.
Wolfgang Lehms – wer sonst wäre geeignet gewesen, einen Vorstoß auf die andere Seite zu wagen, wer sonst wäre bereit gewesen, sich dem unweltlichen Wahnsinn auszusetzen, wenn nicht einer, der nicht an seinem leiblichen Leben hängt? Ja, gewissermaßen und wenn auch nur ein kleines Stück weit, hatte Wolfgang schon immer dort drüben gelebt. Wahrscheinlich hatten sich schon, seit er denken konnte, unheilvolle Gedankenkonstrukte beinahe selbsttätig hinter seiner hohen Stirn gebildet, hatten seine tiefen dunklen Augen schon immer den Glanz der alptraumhaften Vision gehabt. In der Welt gewöhnlicher Menschen jedenfalls war er nie heimisch gewesen. Sie hatten ihn einfach nicht interessiert, waren ihm zumeist, wie er mir später anvertraute, unwirklicher erschienen als die kreischenden bunttobenden Gebilde, die ihn des nachts mit einem Schrei aus dem Schlaf hochfahren ließen. So war ihm auch die Wirkung, die er auf andere Menschen erzielte, gleich gewesen: Sein rabenschwarzes Haar hing ihm tief in die Stirn, er kleidete sich nachlässig, bis an die Grenze der Verwahrlosung. Was andere über seine Erscheinung denken mochten, kümmerte Wolfgang nicht.
Das bedeutete allerdings nicht, dass er keine Freunde gehabt hätte. Es gab einige, mit denen er aber hauptsächlich schriftlich verkehrte, denn dies war es, wofür er menschliche Gesellschaft als nützlich empfand: für den rein intellektuellen Austausch. Nicht einmal für den Erhalt der eigenen physischen Existenz schien er Sorge tragen zu wollen oder zu können. Zwar schrieb er eine nicht unerhebliche Anzahl an Kurzgeschichten und Romanen, doch ließ er sich in der Ausübung seiner Kunst nicht von Dingen wie dem Publikumsgeschmack oder auch nur allgemeiner Verständlichkeit beeinflussen.
Allein über seine ureigene Natur, so muss es mir heute scheinen, lockte er mich und machte mich zum Komplizen seiner Häresie. Sein verzweifeltes Drängen packte mich, ohne dass ich ihn zunächst persönlich kannte. Ich las es, wenn mir die Einzelheiten auch erst später bewusst wurden, aus seinen seltsamen Werken heraus, erahnte es hinter je-dem Buchstaben. Es war die einzige Botschaft, die diese Bände enthielten, die eine Botschaft, die außer mir niemand zu verstehen schien, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass seine eigentlich brillanten Schriften von der breiten Leserschaft als unsinniges Gestammel abgetan wurden. Das Gestammel eines Irren. Und vielleicht waren sie mit dieser Schmähung nicht gänzlich im Unrecht und vielleicht war er noch Schlimmeres als bloß ein armer Wahnsinniger. Ein Narr, ein Ketzer, ein Verbrecher selbst am Göttlichen.
Aber eines war er mit Sicherheit: Er war mein Freund, mein einzig wahrer Freund.
Von dem Augenblick an, da wir uns das erste Mal trafen, herrschte zwischen uns ein tiefes Einverständnis. Unter welchen Umständen dieses erste Treffen stattfand, weiß ich nicht mehr zu sagen, nur der Orkus, den ich an jenem Tage hinter Wolfgangs Augen brodeln sah, ist in meinem Gedächtnis geblieben. Derselbe Abend noch machte aus uns Verschworene.
So sprach der neue Gefährte zu mir: »Dünn ist das Band, das uns an dieses Traumgebilde der Materie kettet und ich verachte es. Die Möglichkeiten, die voraus liegen, müssen ungleich größer sein und es scheint nur recht und billig, wenn wir, die wir über den Dingen des Fleisches und des Blutes stehen, uns endgültig aus ihrem Joche befreien. Der Weg des Menschen aber, auf welchem er wandeln muss, um völlig ins Reich des Unkörperlichen zu gelangen, muss notwendigerweise auch durch das Tor des Todes führen. Dies würde jedoch eine Reise ohne jegliche Chance auf Wiederkehr bedeuten und wer kann schon sagen, ob unsere Seelen, der Erinnerung an diese Welt wohl sofort entwöhnt, noch das ganze Ausmaß der unbegrenzten Herrlichkeiten erfassen könnten? Nein, dieser Pfad ist es nicht, den wir einschlagen wollen. Wir müssen hinüber, ohne unsere Körper gänzlich preiszugeben. Dies soll fortan unser ganzes Streben sein, koste es was es wolle, wenn Sie dieses Unterfangen mit mir wagen wollen.«
Natürlich wollte ich und natürlich ergriff ich die Hand, die sich dort unter der dunklen
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