STYX - Fluss der Toten (German Edition)
ein Zimmer, wo sich Kassandra erschöpft auf das harte Lager warf und sofort einschlief.
*
Ein weiterer Fluss lag vor der Frau.
Sein Ufer war mit rauen Felsen gesäumt, an denen man einige Meter steil hinabklettern musste, um ans Wasser zu gelangen. Das Wasser selbst war pechschwarz.
Auch der Himmel war dunkel geworden.
Das ewige Grau hatte sich zunehmend verdüstert und hier war es so dunkel, dass sie nicht mehr ausmachen konnte, wo das dunkle Wasser aufhörte und der Himmel begann. Es schien, als ob der Fluss sich bis zum Horizont und noch darüber hinaus erstrecken würde.
Wie sollte sie ihn überqueren?
Ratlos und erschöpft setzte sie sich auf das harte Vulkangestein. Ein goldenes Licht erschien mit einem Mal und eine bekannte Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit.
»Hier bist du nun angelangt, meine Liebste. Am Styx, der Grenze zu Hades Reich.« Der Gott ließ sich neben ihr zu Boden gleiten. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen über diesen Fluss, schöne Priesterin. Die Styx, die dem Gewässer ihren Namen gab, ist eine Flussgöttin. Eine dunkle Göttin, so mächtig, dass sogar die anderen Götter sie fürchten. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt der Toten von der Welt der Lebenden zu trennen. Wenn du dich von den schwarzen Wassern ans andere Ufer tragen lässt, wirst du die schattigen Gefilde betreten, auf denen die Toten darauf warten, dass Charon, der Fährmann, sie sicher über den Acheron in die Unterwelt geleitet. Dort warten all jene, denen man bei ihrem Begräbnis keine Münze unter die Zunge gelegt hat, bis in alle Ewigkeit. Bis hier hin konnte ich dich begleiten, mein Kind, aber wenn du den Styx überquerst, wirst du allein sein. Dorthin gehen nur die Toten. Es gibt für uns Götter andere Wege in die Unterwelt, doch den Styx überqueren wir niemals. Sie würde uns nicht mehr gehen lassen.«
Die Frau starrte auf den Fluss hinunter, dann wandte sie sich dem Gott zu. Apollon lächelte. »Geh nur, Liebste, wenn das die Wahl ist, die du getroffen hast. Wir hatten große Pläne für dich. Für dich und dein Kind. Aber vielleicht hast du Recht, vielleicht ist deine Rolle vorüber. Andere werden kommen. Andere Menschen und andere Geschichten. Andere Schicksale, die sich erfüllen mögen. Ich kann dich hinunter zum Wasser geleiten, dann musst du den Rest des Weges allein gehen. Dies ist die letzte Etappe. Am Phlegthon hast du dein Blut zurückgelassen, am Kokytos deine Tränen, am Lethe deine Erinnerungen. Dies ist der Styx, das Wasser des Grauens. Hier musst du deine Furcht zurücklassen.«
Die Frau sah ihn an. Ein langer Blick, als versuche sie, sich zu erinnern, was zwischen ihnen gewesen war.
Dann erhob sie sich.
Auch Apollon stand auf, legte einen Arm um ihre Taille und zog sie nah an sich heran. Er strich über ihr Haar, küsste sie sanft auf die Stirn. Dann lachte er leise. »Ich werde dich vermissen, mein Kind. Keine Sterbliche hat mich jemals so überrascht wie du.«
Dann trat er einen Schritt über den Abgrund hinaus. Seine Füße schwebten auf der Luft. Und so, als ginge er auf einer unsichtbaren Treppe, trug er sie zum Wasser hinunter. Es floss dunkel und beunruhigend schnell dahin.
Apollon lächelte ihr noch einmal zu, dann ließ er sie unvermittelt los und der Fluss riss sie mit sich.
*
Sie erreichte den Tempel und brach auf dem Stufen vor dem Eingangsportal zusammen. Die Welt ringsum drehte sich in einem rasenden, wahnsinnigen Tanz. Der Boden unter ihr verschwand, sie stürzte durch einen dunklen Schacht und Feuerspiralen wirbelten um sie.
Kassandra schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Das Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, dass sie fürchtete, ihre Rippen könnten bersten. Sie hörte Schreie hinter sich, weiter unten am Hang. Schreie und das Klirren von Metall. Schritte. Schwere Schuhe, die die Treppe hinaufstürmten. Ein Brüllen wie von einem zornigen Stier.
Panik stieg in ihr auf.
Sie nahm alle Kraft zusammen, die sie noch in ihrem ausgelaugten Körper finden konnte und stemmte sich auf die Knie. Mühsam kam sie auf die Füße. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, dann taumelte sie halb blind vor Rauch und Tränen vorwärts, hinein in den Tempel. Sie lauschte hinter sich, konnte jedoch nichts hören außer dem Rauschen des Blutes in ihrem Kopf. Schritt für Schritt quälte sie sich weiter. An der langen Säulenreihe vorbei, durch die Gänge und Säle. Bis hinein ins Herz des Tempels, das nur die Priesterinnen der Athene betreten durften. Vor dem Standbild
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